Beim Literaturwettbewerb "Spurenlesen" war der Beginn
der Geschichte vorgegeben, alles Weitere war dem Autor überlassen.
ZWISCHEN ORIENT UND OKZIDENT
(Vorgabe)
In der Neuen Donau in Wien fand ein Spaziergänger am Ostermontag
eine Leiche. Der etwa 50 Jahre alte Mann war an den Händen
und Füßen mit einem Strick gefesselt und trieb wahrscheinlich
bereits einige Tage in der Donau.
(Fortsetzung)
Die Leiche hatte sich an einem Strauch in Ufernähe verfangen
und trieb an der Oberfläche. Da sich der Körper in einem
bereits stark aufgedunsenen Zustand befand und keine Ausweispapiere
gefunden werden konnten, blieb die Identität des Toten vorerst
unbekannt.
Um
Näheres über die Herkunft des Mannes und die Todesursache
zu erfahren, wurden zwei Gerichtsmediziner beauftragt, unabhängig
voneinander die Leiche zu untersuchen. Zwischen diesen beiden, Primarius
Dr. Adolf Borojewicz vom Gerichtsmedizinischen Institut in Wien
und Professor Ignaz Hoffmann aus Linz, entbrannte jedoch, noch ehe
die Untersuchung begann, ein heftiger Streit, wer die Leiche zuerst
inspizieren dürfte. Offensichtlich misstrauten sich die beiden
Herren und mutmaßten, der eine könnte dem anderen durch
die Obduktion wertvolle Hinweise vorenthalten. Es stellte sich heraus,
dass die beiden – Koryphäen auf ihrem Gebiet –
vor nicht weniger als 35 Jahren gemeinsam studiert hatten und seither
erbitterte Rivalen auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin waren. Man
könnte nun sagen, dass die Entscheidung ausgerechnet diese
beiden Experten auszuwählen, eine unglückliche war, aber
sie gehorchte dem Diktat der aufrichtigsten Gewissenhaftigkeit.
Denn nach dem Auffinden der Leiche und der Bekanntmachung der rätselhaften
Todesumstände ordnete niemand anderer als der Wiener Polizeipräsident
an, dass diese Untersuchung unter Vermeidung aller Fehlerquellen
peinlichst genau zu führen sei, und daher zwei Gerichtsmediziner
statt wie üblich nur einer daran arbeiten sollten. Freilich,
von dem jahrzehntelang schwelenden Konflikt zwischen den beiden
Experten wusste der Polizeipräsident nichts. Einen der beiden
Kapazitäten plötzlich aus der Pflicht zu entlassen, hätte
diesen nicht nur vor den Kopf gestoßen, sondern auch Interventionen
bis in die höchsten Ränge der Politik zur Folge gehabt.
Also war die Sache nun nicht mehr zu ändern. Wer aber sollte
die Leiche zuerst untersuchen? Eine Entscheidung durch Losen, Hölzchen
ziehen oder Knobeln lehnten beide Mediziner mangels Seriosität
strikt ab. Es blieb also nur eine Lösung: Die beiden mussten
die Leiche zur gleichen Zeit und am gleichen Ort untersuchen und
dann getrennt voneinander ihre Gutachten verfassen.
Nachdem
man sich nach langem Ringen entschlossen hatte, die Sektion in Wien
vorzunehmen, ließ man die beiden Herrschaften alleine, um
ihr Werk zu tun. Was in den verschlossenen vier Wänden der
Wiener Pathologie vor sich ging, entzieht sich unserer Kenntnis.
Unfreiwillige Ohrenzeugen konnten aber selbst durch die Stahltüren
des Behandlungssaals hören, dass sich Borojewicz und Hoffmann
während der Untersuchung abwechselnd anschrien, auslachten
oder lautstark belehrten.
Grußlos verließen sie die Pathologie und erstellten
getrennt voneinander ihre Berichte. Diese beiden Gutachten brachten
jedoch nur wenig Erhebendes und Überraschendes zutage: Beide
Gerichtsmediziner kamen darin überein, dass der Mann bereits
seit 48 bis 72 Stunden tot und die Todesursache wohl Ertrinken war.
Dies war nun alles andere als ein Knalleffekt, da ja offensichtlich
war, dass jemand den Mann gefesselt in die Donau geworfen hatte.
Dies wurde noch erhärtet durch die Übereinstimmung beider
Gutachter, dass am Körper des Toten außer den durch die
Fesseln entstandenen Schwielen an Händen und Füßen
keinerlei Einwirkungen von körperlicher Gewalt feststellbar
waren. Auch Vergiftungserscheinungen oder sonstige Veränderungen
im Blut konnten nicht festgestellt werden. Beide Experten wollten
aber nicht ausschließen, dass der Mann zuvor eines natürlichen
Todes, zum Beispiel durch Herzversagen, gestorben war, fügten
aber beflissen hinzu, dass dies wohl unwahrscheinlich sei, denn
wer fessele schon einen natürlich Gestorbenen und lasse es
dann wie Mord aussehen.
Oberstleutnant
Ewald Sturm, dem dieser Bericht vorgelegt wurde, sah diese letzte
Bemerkung bereits als Einmischung in seine kriminalpolizeilichen
Ermittlungen und damit als überflüssig an, genauso wie
den Einwurf, dass auch Selbstmord auszuschließen wäre,
da sich ja ein Selbstmörder eher einen Stein um den Hals hängt,
als sich umständlich an Beinen und Händen zu fesseln,
was wiederum die Hilfe einer zweiten Person bedürft hätte.
Für Ewald Sturm war eine Frage viel wichtiger: Wer war der
Tote?
Die
DNA-Proben, die von Borojewicz und Hoffmann entnommen wurden, stimmten
mit keiner vermissten oder sonstigen aktenkundigen Person überein.
Die beiden Gerichtsmediziner stellten allerdings Mutmaßungen
über die Herkunft des toten Mannes an, und hier divergierten
ihre Meinungen in ganz außerordentlicher Weise: Zwar kamen
beide darin überein, dass der Mann, der übrigens vollkommen
kahl war und dessen Hautfarbe durch das tagelange Treiben im Wasser
eine weiße, albinoartige Farbe angenommen hatte, ein Ausländer
gewesen sein musste, über seine genaue Herkunft kamen die beiden
Experten jedoch zu völlig konträren Schlüssen: Während
Hoffmann auf Grund von Gebiss und Schädelform davon ausging,
dass der Tote ein Südländer, mit hoher Wahrscheinlichkeit
ein Türke war, war Borojewicz davon überzeugt, dass der
Mann aufgrund seiner Finger- und Zehenform nur ein Schwede oder
sonstiger Skandinavier sein konnte.
Nachdem
Oberstleutnant Sturm über die Biographien der beiden Mediziner
Erkundungen eingeholt hatte, war ihm klar, warum die beiden derartige
Rivalen waren. Seit ihrem Studium, das sie bei dem umstrittenen
Professor Herbert Habicht absolvierten, der während der Nazi-Zeit
ein Anhänger von Hitlers Rassenpolitik war und später
seine Lehren an der Wiener Universität fortsetzte, hatten Hoffmann
und Borojewicz das, was man unschön als „rassische Merkmale“
bezeichnen kann, zu ihrem Spezialgebiet gemacht und kamen in dutzenden
von Publikationen zu völlig gegensätzlichen Schlüssen.
Oberstleutnant
Ewald Sturm versuchte also vorerst die Mutmaßungen über
die Herkunft des Toten außer Acht zu lassen. Stattdessen wartete
er das Ergebnis der Spurensicherung ab, die die Kleidung des Mannes
untersucht hatte und eine aufschlussreiche Tatsache zutage brachte:
Alles, was der Mann anhatte, sei es sein Unterhemd, die Hose oder
auch der eine Schuh, den er noch trug, stammte aus Frankreich. Es
waren französische Textilien und Schuhe, noch dazu solche,
die ausschließlich im Einzelhandel in Frankreich erhältlich
waren. Somit lag die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Toten
um einen Franzosen handeln konnte. Als Sturm Borojewicz und Hoffmann
mit dieser Tatsache vertraut machte, sahen beide das nur als Bestätigung
ihrer Thesen an. Hoffmann meinte, dass Frankreich ja zu einem guten
Teil zu Südeuropa gehört, man denke nur an Korsika oder
die Pyrenäen, und ein Unterschied zwischen einem Südfranzosen
und einem Türken nur marginal wenn überhaupt existent
ist, während Borojewicz ausführte, dass nachweislich bereits
im Jahre 793 die Wikinger in Frankreich eingefallen waren, dort
ihre Spuren hinterließen und somit seine Skandinavier-These
nur auf Trefflichste bestätigten.
Am frühen Morgen des nächsten Tages wurde Oberstleutnant
Ewald Sturm zu einem weiteren Einsatz gerufen. Er hatte ganz mittelbar
mit dem Toten aus der Donau zu tun. Neben seinem Leichnam in der
Wiener Pathologie waren am frühen Morgen zwei grässlich
zugerichtete Leichen gefunden worden. Als Sturm am Tatort eintraf,
traute er seinen Augen nicht. Die Wasserleiche war noch aus der
Kühlbox geschoben und noch zur Hälfte aufgeschnitten.
Daneben lagen auf dem Boden in einem Meer aus Blut zwei Männer
in vormals weißen Mänteln. Dem einen steckte ein Skalpell
im Kopf, dem anderen im Herz – es gab keinen Zweifel: Es handelte
sich um die beiden Gerichtsmediziner Borojewicz und Hoffmann. Offensichtlich
hatten sich beide heimlich und unabhängig voneinander des Nachts
in die Pathologie geschlichen, um noch einmal ihre Ergebnisse zu
überprüfen. Dass ihnen ausgerechnet auf ihrem Spezialgebiet,
der Herkunftsherleitung, ein Fehler unterlaufen sein konnte, wollten
wohl beide nicht auf sich sitzen lassen. Wahrscheinlich waren Borojewicz
und Hoffmann wiederum über etwas in Streit geraten. Da der
Leichnam aus der Donau mit geöffneter Bauchdecke dalag, konnte
es gut sein, dass ihre unterschiedliche Meinung über dessen
Mageninhalt den Konflikt ausgelöst hatte. Was auch immer sie
argumentierten - womöglich bestand Hoffmann auf ein Kebap als
des Toten letzte Mahlzeit, während Borojewicz auf Knäckebrot
mit Lachs tippte - Tatsache ist, dass sie mit ihren Skalpellen aufeinander
losgegangen waren, sich allerhand böse Verletzungen zugezogen
und schließlich im selben Augenblick zum tödlichen Stich
ausgeholt hatten.
Oberstleutnant
Sturm schüttelte nur den Kopf. Er hatte immer gedacht, dass
die Donau, dieser europäischste aller Flüsse, doch dazu
geeignet war, Orient und Okzident in harmonischer Weise miteinander
zu verbinden. Der Fall Borojewicz – Hoffmann zeigte das Gegenteil.
Der
Mord an dem Mann aus der Donau konnte übrigens bis jetzt nicht
geklärt werden. Ewald Sturm musste sich aber eingestehen, dass
die Aufklärung von zwei aus drei Mordfällen innerhalb
kürzester Zeit nicht das schlechteste Ergebnis für einen
Wiener Kriminalbeamten war.
Home |