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INTERVIEW MIT

BARBARA ALBERT

 

Die Wirklichkeit, die glaubt dir keiner

Das Gespräch mit Barbara Albert sollte sich anders gestalten als mit den anderen Autoren. Schon einmal, weil sie die jüngste unter den Befragten war, und mir, als ihrJahrgangskollege auf der Filmakademie, ihr Werdegang wohlbekannt war. Der Erfolgsweg, der sie in den letzten Monaten zum Regie-Shooting-Star der heimischen Filmbranche machte, sollte - im Gegensatz zu den anderen Gesprächen -, nicht im Mittelpunkt des Interviews stehen. Es sollte um die Erfahrungen bei der Entstehung eines Drehbuchs gehen.

Bereits 1995 konnte ich eine erste Drehbuchfassung von "Nordrand" lesen, jetzt beim Sehen des Films entdeckte ich, wie nahe diese ursprüngliche Fassung schon am fertigen Film war. Barbara Albert, Jahrgang 1970, ist nicht nur eine genaue und sensible Autorin, sie hat auch das Geschick, daß die Filme dann noch besser sind wie ihre bereits sehr guten Drehbücher. Mich beschäftigte die Frage, wie ihre Geschichten entstehen, woher die Figuren kommen, inwieweit sie erfunden sind oder ob sich reale Personen dahinter verbergen.

Die Hauptfiguren in Barbara Alberts Filmen sind sich untereinander ähnlich, es sind Mädchen und junge Frauen, die noch Kinder sind und erwachsen sein wollen, oder umgekehrt, Mädchen, die das Glück suchen, welches immer wieder von den kleinen und großen Hindernissen des Alltags in Frage gestellt wird.

Der Durchbruch für Barbara Albert mit "Nordrand" war nur eine logische Folge ihrer schon zuvor genau beobachteten Filmgeschichten. Die narrative Struktur ist in ihren Filmen auf das Notwendigste reduziert, Details bilden ein Mosaik, das aus den ganz einfachen, ja banalen Handlungen aus dem Leben der Figuren zusammengesetzt ist. Am stärksten findet sich die Narration noch in ihrem ersten Film "Nachtschwalben", der in sieben Minuten von zwei Mädchen erzählt, die eine Rivalin in einer Disco-Toilette strangulieren. Dieser Film, der in nur zwei Tagen als Regieübung auf der Filmakademie gedreht wurde, gewann auf Anhieb den renommierten Max Ophüls-Preis. "Die Frucht deines Leibes" war schon weniger Geschichte als eine Folge von Episoden und Assoziationsketten, die ein etwa zehnjähriges Mädchen in der Auseinandersetzung mit seiner physischen Entwicklung und den Tabus der Erwachsenen gegenüber der Sexualität wahrnimmt. Mit "Sonnenflecken" und "Tagada" (Teil des Episodenfilms "Slidin") begann die Darstellung von sogenannten Frauenpaaren, wie sie auch in "Nordrand" erzählt wurde. In "Tagada" ging es um zwei 14jährige, die sich auf ein nächtliches Abenteuer mit einem fremden, älteren Mann einlassen. Die periphere Narration weicht der Fokussierung von Verhaltensweisen von Teenagern, dem "Spruch" und den zaghaften Identitäts-Prüfungen, denen sich die jugendlichen Figuren stellen.


Nachdem die Figuren in Barbara Alberts Filmen innere und äußere Kämpfe durchleben, werden sie immer wieder in ihre Ausgangsposition zurückgeworfen, sind letztendlich wieder auf sich selbst gestellt. Daß sie dabei allein, aber nicht einsam sind, ist die große Hoffnung, die sich durch ihre Filme zieht. Nicht selten haben die weiblichen Figuren durch die gemachten Erfahrungen an Unabhängigkeit gewonnen. Dabei sind Alberts Filme weit davon entfernt, "feministisch" zu sein. Es sind kühle, doch sehr nahe Blicke auf Subjekte in einer abweisenden Umwelt, dem Wien der 90er Jahre. Die Menschen darin sind aus Fleisch und Blut, authentisch ihre Sprache, nachvollziehbar das Beziehungsgeflecht aus Abhängigkeiten in einer manchmal skurril erscheinenden Neubau-Wohnzimmeratmosphäre. Die Autorin ist selbst in der Nähe der Wiener Großfeldsiedlung aufgewachsen. Aus dem Gespräch über die Entstehung von "Nordrand" geht hervor, daß es Barbara Albert weniger darum geht, selbst erlebte Wirklichkeit zu schildern, sondern in der fiktiven Filmerzählung Variationen der Wirklichkeit auszubreiten, sodaß die Themen, die ihr ein Anliegen sind, diskret im Subtext bleiben. "Die Wirklichkeit, die glaubt dir keiner" stellt Barbara Albert im Gespräch fest. Die Realität, wie sie sich stellt, ist mitunter so brutal, monströs und verrückt, daß sie auch dem bewußten, unvoreingenommen Zuschauer unglaubwürdig erscheint. Es ist die Kunst der Autorenfilmerin, den Film dann so zu gestalten, daß dem Zuschauer jedes Wort und jedes Bild sogar noch wahrer erscheint als das wirkliche Leben.

  

INTERVIEW. FEBRUAR 2000

 

Kannst du sagen, wann die Geburtsstunde von der Idee zu "Nordrand" war?

Ich habe 1995 angefangen zu schreiben, und zwar in Amerika. Ich war allein unterwegs und bin mit dem Auto die Pazifikküste entlang gefahren und wollte eben schreiben. Dann sind mir Bilder gekommen, das war der Anfang, Bilder, die zum Teil mit meiner Erinnerung zu tun hatten, und auf der anderen Seite Ideen, auch ideologische Dinge, die mir für einen Film wichtig waren. Ein Thema war eine Frau, die geliebt werden will, aber nie gelernt hat, es anders als über Sex zu bekommen. Das hat mich interessiert. Das andere war die ausländerfeindliche Stimmung in Österreich, die mir damals sehr oft begegnet ist. Ich hab da Aggressionen auch auf der Straße gespürt. Es war mir auch die Entwicklung von Haider ein Anliegen, ich hab sogar auf Haider-Wahlveranstaltungen gedreht, aber das war mir dann plötzlich zu präzis und konkret, das wollte ich dann doch nicht. Es gab noch andere Themen, die sich erst mit den Figuren entwickelt haben: die Distanziertheit von Tamara und das Nicht-Umgehen-Können mit ihren Gefühlen, eine gewisse Heimatlosigkeit, das Vertriebensein und der Krieg in Bosnien. Das waren Themen. Auch die Frage, will ich selber ein Kind oder nicht, was ja stark verbunden mit der Frage ist: Will ich jetzt schon erwachsen werden oder nicht? In der Geschichte geht es um die Entscheidung der Frauen, ob sie jetzt schon abschließen mit ihrer eigenen Kindheit oder nicht. Deshalb gibt’s am Anfang und am Schluß auch die Kinder, die Drachen steigen lassen. Um eigentlich zu sagen, es beginnt was Neues und vielleicht das Abschließen mit der eigenen Kindheit. Das waren die Themen.


Die Figur der Jasmin war aber von Anfang an da?

Das war die erste Figur. Die Tamara war mir auch fremder. Sie hat mich sehr interessiert und sie ist auch eine Mischung aus Menschen, die ich kenne oder auch als Kind gekannt habe. Letztlich ist mir die Figur immer ein bißchen fremder [als andere] geblieben. Ich selber habe mich aber in beide Figuren eingebracht.


Jasmin kommt ja aus zerrütteten Verhältnissen. Es ist ziemlich offensichtlich, daß der Vater die Töchter mißbraucht, dazu kommt ihr gestörtes Sexualverhalten, das sie auch nicht sonderlich genießt. Daß sie nur über Sex Liebe bekommen kann, ist eine der vorkommenden Verhaltensweisen von mißbrauchten Mädchen und Frauen, wie man sie von psychologischen Studien kennt. Woher kennst du das?

Ich selbst bin ja nicht sexuell mißbraucht worden, und habe das trotzdem gefühlsmäßig gemacht. Es hat bei mir auch während der Schulzeit Mädchen gegeben, wo man irgendwie gespürt hat, daß vielleicht so etwas passiert ist, wo’s manchmal auch Gerüchte gegeben hat, und die dieses Verhalten, das die Jasmin in dem Film hat, an den Tag gelegt haben. Das ist zum Teil Beobachtung, zum Teil Gefühl gewesen. Mir hat das aber auch zu schaffen gemacht, weil ich nicht gewußt habe, ob das jetzt stimmt oder ob ich mir das einbilde. Und dann bin ich mit der Nina [Proll] zur "Möwe" [Stelle für mißbrauchte Frauen und Kinder] gegangen und wir haben dort vor allem mit einer Frau länger gesprochen. Wir konnten sehr viele Fragen stellen und sie hat mich sehr bestätigt, in dem was ich geschrieben habe: sie hat zwar gesagt, natürlich gibt es ganz andere Verhaltensweisen auch, aber man kann sagen, daß das schon eine relativ typische Verhaltensweise ist. Dort hinzugehen war für mich irrsinnig wichtig, auch, um mich abzusichern. Es hat während der Arbeit am Buch von vielen Seiten geheißen, gib doch diese Mißbrauchsszene zwischen dem Vater und Jasmins Schwester raus. Sie meinten, die Familie sei eh schon so schrecklich, und wenn das auch noch ist, wäre das zu viel. Und da habe ich aber gesagt, das ist so wichtig, weil sich die Jasmin dadurch erklärt. Ich sage deshalb nicht, daß alle die mißbraucht wurden, so sein müssen. Aber wegen der Kritik und den Einwänden, das sei zu unrealistisch, wollte ich mich absichern.


Kannst du sagen, mit welcher Figur du dir am leichtesten und mit welcher am schwersten getan hast?

Ich glaube, ich hab mir mit der Jasmin am leichtesten getan. Bei der Tamara hat es ein paar Haken gegeben, über die ich nicht drüber gekommen bin, weil ich sie zu wenig gekannt habe. Am schwersten habe ich mir vielleicht mit dem Rumänen Valentin getan, der hat sich durch die Fassungen immer wieder verändert. Man muß auch sagen, daß die Männer viel reduzierter gezeichnet sind als die Frauen. Der Valentin ist eigentlich ein bißchen ein Macho, aber sympathisch und charismatisch. Er will unabhängig sein, aber viel mehr hat der nicht. Erst durch den sehr guten Schauspieler hat das trotzdem funktioniert. Ich habe auch am längsten gebraucht, den zu casten. Den Schauspieler haben wir dann in Bukarest gefunden. Auch der Senad ist sehr reduziert. Da gibt es nur das Thema: er flieht, er ist aus seiner Heimat vertrieben und hofft, irgendwo etwas anderes zu finden. Das ist eigentlich nicht sehr viel. Und der funktioniert auch über das Gesicht des Schauspielers.

Aber das Gesicht hattest du beim Schreiben ja nicht?

Eben. In den verschiedenen Fassungen gab es noch ganz andere und viel mehr Szenen mit ihm. Zum Beispiel am Schluß überlegte ich einmal, daß der Roman abrüstet, er kommt noch einmal zur Tamara, der Senad hat eine Band und spielt in einem Keller und er trifft seine Freundin, die aus Bosnien kommt, und er weiß nicht, ob er sich zwischen ihr und Jasmin entscheidet. Es hätte über alle Figuren noch viel mehr Szenen gegeben, und das hätte den Rahmen gesprengt. Das Buch war zwischendurch zwischen zweieinhalb bis drei Stunden lang.

Wieviel Fassungen hast du für "Nordrand" geschrieben?

Bis ich zum Erich Lackner, dem Produzenten, gegangen bin, habe ich sicher fünf bis sieben Fassungen geschrieben, einige mit nur kleinen Änderungen. Danach habe ich wieder zehn bis zwölf neue Fassungen gehabt. Natürlich hat sich da nicht immer Großes geändert, ernstzunehmende Fassungen werden es aber fünf bis zehn gewesen sein.


Ich kenne die erste Fassung und habe vor allem in den Dialogen nur wenig Veränderungen im Film bemerkt. Bei den Figuren gab es Verschiebungen. Eine Szene fehlt aber gänzlich: eine Selbstmordszene während einer Schnellbahnfahrt – eigentlich ein dramatischer Höhepunkt in der Geschichte ...

Das war nicht so ganz freiwillig. Je näher es ans Drehen ging, umso mehr Veränderungen hat es gegeben, weil es geheißen hat, ein paar Sachen sind zu teuer. Dazu hat zum Beispiel die Militärparade gehört. Ich wollte diese Szene aber unbedingt und sie ist dringeblieben. Ich wollte einfach die Stimmung der Militär-Befürworter einfangen. Ich habe den Film jetzt in Holland gezeigt, und die Zuschauer, die natürlich die Veränderungen Österreichs im Hinterkopf gehabt haben, haben darauf beim Sehen reagiert und es auch nachher erwähnt.

Wir hatten das bereits 1995 dokumentarisch gedreht und ich wollte es unbedingt schaffen, daß eben diese Szene mit den Schauspielern stattfindet, und es war dann wie ein Deal, daß dafür etwas anderes gestrichen wird.Die Schnellbahnszene wäre natürlich ein immenser Aufwand gewesen. Ich bin dann zu dem Schluß gekommen, daß ich es akzeptieren kann, wenn diese Szene nicht im Film ist. Ich find’s natürlich schade. Bei vielen Szenen, die rausgeflogen sind, hat es mir leid getan, bei manchen hab ich mir schon gedacht, die waren auch nicht gut. Die Schnellbahnszene wäre natürlich etwas Atmosphärisches gewesen, aber ab dem Zeitpunkt, von dem ich mich von etwas verabschiede, muß ich’s eh vergessen.


Es gibt ja unter Dramaturgen die Theorie, daß alles, was Stimmung und Atmosphäre ist, das nicht zur Geschichte dazugehört, rausgehört.

Da bin ich ein absoluter Gegner. Wenn du zum Beispiel versuchst, "Nordrand" in zwei, drei Sätzen zu erzählen, dann ist die Geschichte banal. Zwei Mädchen, die in der Volksschule nicht gerade befreundet waren, treffen sich nach Jahren wieder, weil sie beide abtreiben. Daß sich die beiden in der Abtreibungsklinik treffen, könnte genauso ein Fernseh-Psychodrama sein. Für mich leben Filme sehr stark von den kleinen Szenen dazwischen, von kleinen Momenten und Bildern. Man erinnert sich bei Filmen ja meist auch nicht an die Geschichte, sondern an Stimmungen, Gefühle, die hochkommen. Film ist eine extreme Mischung aus Geschichte und vielen Kleinigkeiten, die überhaupt nichts mit Struktur oder Geschichte zu tun haben.

 

Was recht kompliziert ist, ist das Figurengeflecht. Da hast du sehr mit zufälligen Begegnungen gespielt, vor allem in der ersten Fassung, die ich gelesen habe. Der Film ist dann eher linear erzählt. War das anfangs eine strukturelle Grundidee, Figuren, die sich erst später kennenlernen werden, sich immer wieder begegnen zu lassen?

Auf jeden Fall. Das war zu Beginn des Schreibens auch viel stärker vorhanden. Im nachhinein glaube ich, daß es zu viel für die Zuschauer gewesen wäre. Es gibt auch Zuschauer, die am Anfang Schwierigkeiten haben, weil sie den Figuren in den ersten 20 Minuten nicht folgen können. Es gab in den frühen Fassungen zu viele zufällige Begegnungen, vor allem zwischen Tamara und Jasmin, einmal bei der Schnellbahn, dann da zufällig und dort zufällig. Das wäre wahrscheinlich zu komplex gewesen. Vielleicht hätte der Zuschauer auch das Interesse an den Figuren verloren, weil die Szenen immer kürzer wurden, und ein Springen unvermeidlich gewesen wäre. Also habe ich da ziemlich viel radikal rausgeworfen. Dadurch ist die Geschichte linearer geworden. Mir war aber wichtig, daß alle, die sich kennenlernen, sich davor schon irgendwo begegnen. Und das findet im Film statt. Bei manchen Begegnungen weiß man’s vielleicht erst, wenn man ein zweites Mal den Film sieht. Zum Beispiel wenn die Jasmin beim Wolfi ist und streitet, schaut sie aus dem Fenster, und da fährt unten der amerikanische Bus vom Valentin vorbei. Im ersten Moment, in dem man das sieht, weiß man’s nicht.

 

Der Film hat einen ungemeinen Rhythmus. Zum Beispiel gibt es eine Rückblende, in der Tamara ihre Eltern mit dem Auto nach Bosnien fahren sieht. Im Film ist das ein kommentarloses Bild, im Drehbuch ist es klar: die Eltern fahren in den Krieg. Wenn man solche Bilder im Film sieht, ist man ab und zu überfordert. Ist das schon beim Schreiben abzusehen gewesen?

Bei der Regie ist es so, daß ich mich immer weniger auf etwas draufsetzen will. Mir ist oft etwas zu kitschig oder zu deutlich. Das war bei der Musik genauso. Am Anfang wollte ich viel weniger Musik, bzw. ich wollte nie einen Score, eine Untermalung, im nachhinein habe ich gemerkt: manchmal hätte ich deutlicher sein müssen. Der Zuschauer weiß in der Fülle von Information mit manchen Sachen nichts Genaues anzufangen. Wenn man selbst die Geschichte gut kennt, glaubt man, daß manche Sachen überdeutlich sind und will sich nicht noch mehr draufsetzen. Im Buch ist vieles so klar, eindeutig und einfach, daß ich manchmal Bilder einfach in den Film hineinsetze, weil ich mir denke, das ist eh ganz logisch. Der Zuschauer bräuchte aber vielleicht mehr Zeit oder mehr Vorbereitung.

 

Die Umgebung der "Nordrand"-Siedlung ist ja deine Vergangenheit. Du bist dort aufgewachsen. Sind die Frauenfiguren ein Teil von dir selbst und ein Teil von anderen Menschen, Leuten, die du kennst?

Ich habe ja eine sehr glückliche Kindheit gehabt, das einzige, was ähnlich ist, daß wir viele Kinder, vier Kinder, waren, und es dementsprechend zugegangen ist, aber in keiner Weise so wie bei der Jasmin, und auch das Milieu war anders, meine Eltern haben beide studiert. Aber: wir sind neben der Großfeldsiedlung aufgewachsen, und ich kannte viele Kinder von der Schule und aus der Nachbarschaft. Da hat man einfach durch Verhaltensweisen der Kinder, weniger durch Erzählungen, als durch einen gewissen Spruch, gespürt, was los ist. Es hat bei mir in der Volksschule auf jeden Fall eine Jasmin oder eine Sonja gegeben, das sind aber nicht die Figuren, die im Buch sind. Ich hab sie mir nur kurz ausgeborgt und in sie etwas hineininterpretiert.

 

Gibt’s dann beim Schreiben, oder vielleicht auch beim Inszenieren, ein bißchen Angst oder schlechtes Gewissen, daß man Erlebtes und lebende Figuren, manchmal gehörte Sätze verwendet? Gibt es eine Schwelle, die man sich nicht zu überschreiten traut?

Das gibt es bei mir überhaupt nicht. Es gibt autobiographische Momente in "Nordrand", wo ich weiß, daß ich sie so verfremdet habe, daß ich kein Problem damit habe, weil es nie 1:1 ist. Ich hab mit 16 im Winter mit einer Gruppe von Freunden am Entlastungsgerinne der Donau ein Mädchen gefunden, am Eis liegend, die war 13 und halb erfroren. Sie war betrunken und wurde von zweiBurschen liegengelassen. Die haben wir hinaufgetragen, sie war dann auf der Intensivstation, das war wirklich alles sehr dramatisch, eine Erfahrung, die mich damals sehr gerührt hat. Das Bild des Mädchens, das auf dem Eis liegt, hat sich wirklich eingebrannt, und das habe ich für die Geschichte schon benutzt, in dem die Jasmin dort auf ähnliche Weise liegt, aber doch ganz anders, denn ich benutze solche Momente, die irgendwann einmal passiert sind und forme sie so um , daß sie sich der Geschichte anpassen.

Ich wollte noch etwas sagen zu den gehörten Sätzen. Wenn ich Sätze irgendwo höre und die gefallen mir gut, dann finde ich es toll, wenn ich die benutzen kann fürs Buch. Oft ist es so, man fährt in der Straßenbahn oder U-Bahn und ich sehe irgendeinen Menschen, und ich höre einen reden, und der interessiert mich dann so, daß mich der inspiriert, an einer Figur zu basteln. Das ist so der banale Anfang. Da habe ich auch kein schlechtes Gewissen. Ich halte mich aber auch zurück. Wie wir durch Bosnien gefahren sind, gab es Szenen, die so stark für mich waren, daß ich da eben nicht schnell die Kamera hinhalten mußte. Wenn etwas so lebt, habe ich eine Hemmschwelle, die mir erlaubt, das so zu erleben wie ich das sehe, und ich denke mir: irgendwann schreibe ich das in ein Drehbuch.

 

Der Unterschied zwischen Fiktion und Realität hebt sich trotzdem auf. Mir kommt vor, der Film sieht aus wie eine true story, man spürt aber nicht, daß hier fiktiv gearbeitet wurde. Ist das bewußt?

Ich benutze gerne "wirkliche" Dinge, wobei mir oft klar ist, daß die Realität oft so absurd ist, daß man sie nicht glaubt. Ich hatte Szenen in "Nordrand" drinnen, wo die Leute gesagt haben, "geh bitte, das ist doch unglaubwürdig". Das ist aber alles wirklich passiert. Die Wirklichkeit glaubt dir keiner. Man muß die Realität immer wieder ändern, damit sie auch glaubwürdig wird. Ich finde es trotzdem wichtig, möglichst nahe an die Realität ranzukommen, weil sonst wird alles verharmlost, verschönert oder einfach zu simpel.

Im Moment des Drehens denke ich mir oft: wir sind nicht nah genug an der Realität, wir sind nicht real genug. Wenn ein Film physisch nachzuvollziehen ist, dann ist fürmich der Film sehr gut. Das war mir schon sehr wichtig. Das ist aber nur eine Variante des Erzählens, wenn ich einmal ein anderes Genre mache, dann kann das auch wieder anders sein.

 

Hast du sehr viel kämpfen müssen mit dem Produzenten? Nicht nur wegen Geldproblemen, sondern auch wegen Zeitproblemen?

Vom Produzenten sind schon immer wieder so Sätze gekommen: Geh, was brauchst denn die kleine Szene da noch, die drei Zeilen? Dazu muß ich aber sagen, daß bereits im Vorfeld ein sehr großes Verständnis dafür da war, und der Erich auch erkannt hat, daß die Geschichte auch davon lebt. Er hat meine anderen Filme gekannt und gemerkt, daß mir diese kleinen Dinge wichtig sind. Nach dem Ende des ersten, großen Drehblocks war das anfängliche Verständnis des Produzenten nicht mehr ganz so groß. Wir haben acht Wochen (zu fünf Tagen) gedreht, was sehr viel ist. Wir sind aber nicht ganz durchgekommen, also hat es Streichungen gegeben. Außerdem waren wir im Winter sehr lichtabhängig. Dadurch sind Szenen auf der Strecke geblieben, die ich unbedingt noch drehen wollte. Wir haben die Australien-Szene, und die Szene ganz am Schluß, wo die Alexandrina mit dem Kind am Baum steht, im Alleingang nachgedreht, ohne daß die Produktion davon gewußt hat. Sobald das Material da war, habe ich’s dem Erich gesagt, und er hat sich darüber gefreut, aber vorher hat er’s nicht wollen.


Gab es von Fernsehredakteuren Einflußnahme auf das Buch?

Da haben wir mit der Annedoret von Donab vom ZDF zusammengearbeitet und niemandem vom ORF. Der hat nicht mitproduziert, erst im nachhinein hat er die Senderechte gekauft. Die Annedoret hat so gut wie nix... also alles, was sie eingebracht hat, hat sie freundschaftlich eingebracht. Sie hat nicht gesagt, das darf nicht sein, das soll so sein. Sie hat auch nie etwas gesagt wegen der Sprache, was mich sehr verwundert hat: Ich habe nach wie vor großen Respekt vor ihr, daß sie daran geglaubt hat, daß der Film diese Sprache haben muß. Es gab also keine Einwände, wobei der ZDF auch nicht so viel Geld beigetragen hat, daß das eine Machtfunktion gerechtfertigt hätte.


Ganz am Anfang, bevor du den Film noch gedreht hast, warst du in Sarajewo und hast dort dokumentarische Aufnahmen gemacht. War das schon geplant als Teil des Filmes oder war es eher eine Recherche?

Es war als Recherche geplant, um Leute, die von dort kommen, einfach einmal kennenzulernen. 1995 wollten wir das ganze eigentlich auf der Akademie drehen. Noch ohne Schauspieler haben wir damals schon die Militärparade vorgedreht, auch Silvester 95/96, alles dokumentarische Sachen. Und dazwischen einige Bilder im Advent. Schneebilder, Fahrten – manche Dinge, die jetzt zum Teil auch im Film sind. Bei einem Casting 1995 habe ich sehr viele Bosnier kennengelernt, sehr liebe Leute. Ich habe mich gewundert, wie stark die wie wir sind. Und ich habe mir gedacht, ich muß einmal nach Sarajewo fahren, um zu schauen, woher die kommen, wie dieses Land ist. Dann war ich auch dort, um mit Leuten zu reden, und hab auch immer gesagt, wenn sich ein Film ergibt, dann ergibt sich ein Film, und wenn nicht, dann hab ich einfach Menschen gesprochen.

 

Unter den Hauptfiguren befindet sich eine Bosnierin, die in der zweiten Generation in Österreich lebt, ein Serbe und ein Rumäne, die so wirken, als würdest du sie kennen. Ist das durch deine Besuche in diese Länder enstanden oder weil du viele Kontakte zu Ausländern in Österreich hast?

Im Endeffekt habe ich gar nicht so viele Kontakte zu Ausländern gehabt, ich glaube, daß sehr viel Beobachtung ist, die sich durch die Recherche ergeben hat. Im engen Freundschaftskreis gab es da nicht so viel, natürlich gab es in der Schule Kolleginnen aus dem ehemaligen Jugoslawien und verschiedensten Ländern. Aber letztendlich war viel Beobachtung: zum Beispiel im Prater, wo die Mädels in Horden ankommen, die Burschen, die beim Autodrom stehen – Jugendliche aus Ex-Jugoslawien, die ich einfach gerne beobachtet habe. Auch ihr Sprachengemisch hat mir sehr gefallen. Ich habe einmal einen Russisch-Kurs gemacht und dadurch in Sarajewo ein bißchen mehr Gespür für das Slawische gehabt, und ich mag die Sprache sehr, sehr gern.

 

Senad und Valentin sind doch, oberflächlich gesehen, in der Hand der Mädchen. Die Frauen sind sehr stark gezeichnet, die Männer eher gefügig.

Die anderen Beziehungen sind umgekehrt. Der Wolfi und die Jasmin zum Beispiel, und Roman und Tamara sind ziemlich gleichgestellt. Ich glaube, daß es nur mehr auffällt, wenn ein Mann einmal weicher ist. Das fällt eben auf, weil es ungewohnt ist, aber ich habe das Gefühl, daß es von den Machtverhältnissen her relativ ausgewogen ist. Was doch auffällt, ist, daß die Österreicher einmal die Arschlöcher sind, und die Ausländer weniger, aber ich muß ehrlich sagen, daß ich beim Schreiben schon sehr bald nicht mehr daran gedacht habe, ob jemand von hier oder von woanders her ist. Die Figuren sind alle für etwas gestanden, aber ich habe ihre Herkunft auch nicht mehr gesehen. Sie waren für mich in dem Sinn nicht die Österreicher und die Ausländer. Die waren für mich so gleich, sodaß es mir egal war, ob ein Österreicher besser oder schlechter wegkommt. Ich hab sogar noch ein paar Szenen rausgehaut, wo die Österreicher als ärgste Ausländerfeinde dastehen. Darüber bin ich auch froh, denn das wäre zu platt, zu schwarz-weiß gewesen.

 

Du warst jetzt gerade auf internationalen Festivals. Wird "Nordrand" als politischer Film empfunden?

Zum Teil schon. Ich sage, daß es kein politischer Film ist. Ich wollte ursprünglich viel politischer sein. Aber es trifft sich gerade jetzt mit der neuen Regierung leider gut, daß eben der Film auch das Thema "Ausländer sein in Österreich" behandelt. Aber er prangert ja nicht einmal an, wie mit Ausländern umgegangen wird. Vielleicht ist es schon politisch genug, daß ich einfach nur Menschen zeige, Österreicher und Ausländer, die ganz normal miteinander auskommen

 

In deinen Filmen geht es oft um halbwüchsige Mädchen oder junge Frauen um die 20. Was interessiert dich an diesem Alter?

Das ist sehr einfach. Das ist mir noch so nah, dadurch tue ich mir leichter. Ich würde mir auch zutrauen, über meine Mutter und ihre Freundinnen zu schreiben, aber das selbst erlebte Alter liegt einfach näher. Ich tu mir mit Männerfiguren nicht so leicht, sie interessieren mich einfach nicht so. Vielleicht will ich mich auch nicht in sie hineinversetzen. Ich bin auch sehr froh, daß ich eine Frau bin. Ich merke aber jetzt schon, daß ich nicht mehr dieses "zwei Frauen"-Bild zeichnen will, das sich in meinen Filmen wiederholt hat - die "Sonnenflecken"-Frauen, die "Nordrand"-Frauen, letztlich die "Slidin"-Mädels. Immer dieses Paar von Frauen. Das ist jetzt beendet, das brauche ich so bald nicht wieder.

 

Pragmatische Frage: Hast du in den Kurzfilmen bewußt Dinge ausprobiert, die du dann in "Nordrand" zur Perfektion gebracht hast?

Das ist interessant. Ich hab zum Beispiel "Nordrand" noch vor "Sonnenflecken" und "Slidin" geschrieben, habe natürlich viel länger daran gearbeitet, deshalb ist es auch viel ausgereifter, aber ich habe durch "Sonnenflecken" gemerkt, welche Dialoge nicht so gut funktionieren oder zu ausgesprochen sind, oder wo zu viel erzählt wird in den Dialogen. "Sonnenflecken" war sicher auch ein Probieren, mit Frauen gewisse Szenen zu erarbeiten, auch wenn ich es nicht geschrieben habe, um möglichst was ähnliches zu "Nordrand" zu machen. Aber es war schon eine Lust, diese zwei Frauen zu erzählen. "Slidin" war für mich weniger eine Übung als eine eigenständige Geschichte, da ging es doch um ein ganz anderes Alter.

 

Wie wichtig ist es beim Schreiben schon den Schluß zu haben. Schon bevor du anfängst?

Ich hab Anfang und Schlußbild fast immer als erstes. Bei "Nordrand" war es das Bild von Kindern und eines steigenden Drachens. Vor dem Ende hat sich während der Arbeit noch viel verändert, aber den Schluß, oder das, worauf es hinausläuft, habe ich schon sehr bald gehabt.

 

Bei "Die Frucht deines Leibes" ist ein sehr religiöses Element spürbar. Bist du religiös erzogen worden?

Ja. Meine Mutter ist katholisch, mein Vater evangelisch. Meine Mutter hat bei der Heirat ihrer Familie versprechen müssen, daß sie ihre Kinder katholisch erzieht. Sie ist erzkatholisch erzogen worden, sie selbst ist Christin und zum Teil auch Esoterikerin, und dadurch schon viel freier. Als ich klein war, da bin ich beim "Opus Dei" gelandet, weil eine Freundin meiner Mutter das empfohlen hat. Als meine Mutter erfahren hat, was wir da im Katechismus lernen von Fegefeuer und Hölle usw., hat sie mich sofort rausgenommen. Ich hab schon eine katholische Erziehung gehabt, ich war in der Jungschar und bei "Schönstadt", das ist auch so eine katholische Vereinigung mit Schwerpunkt Marienverehrung. Da war ich als Kind auf Ferienlagern und das war für mich ziemlich furchtbar. Trotzdem war es interessant, weil es Kinder gab, achtjährige Mädchen, die sind mit Verletzungen in der Kirche gekniet und haben für Jesus gelitten. Schon in diesem Stil. Dann natürlich beichten gehen, vor dem ich mich immer gedrückt habe, und dreimal am Tag beten und Rosenkranz. Aber eigentlich war das nicht das Gedankengut meiner Mutter.

 

Was hat Dir die Filmakademie in Hinsicht aufs Drehbuchschreiben gebracht?

Ich hab auf der Schule gelernt, mich trotz meiner Ängste zu überwinden, vor anderen Leute über meine Geschichten zu reden oder sie sogar zu erzählen. Das war für mich am Anfang schrecklich. Mir haben sie immer gesagt: "Sie verweigern sich der Geschichte". Und das stimmt, weil ich wollte immer nur Momente erzählen, Situationen beschreiben. Ich hab immer schon gerne beschrieben. Ich habe zuerst die Situationen, und bastle erst danach an der Struktur, die sich wie ein Puzzle aus Situationen zusammensetzt. Auf der Akademie wurde immer dieser ganze Erzählbogen gefordert, Anfang – Ende – Schluß, aber es ist nicht so, daß ich mich dem absichtlich verweigern würde, sondern ich kann das gar nicht. Ich habe zuerst die Situationen, und bastle erst danach an der Struktur.

Über Strukturen habe ich viel durch Bücher erfahren, die gar nicht primär mit Drehbuchschreiben zu tun haben. Die Auseinandersetzung mit Drehbuch- oder Regiekollegen, mit denen du ja über deine Bücher redest, hat sicher auch etwas gebracht. Ich muß auch sagen, daß ich nur sehr wenig zum Drehbuchunterricht gegangen bin.

 

Kann man Drehbuchschreiben überhaupt lernen?

Du kannst Drehbuchschreiben sehr wohl lernen. Wenn du dir eine Szene anschaust, kannst du Fragen stellen, und wenn du diese Fragen lernst, dann kann dir das was bringen. Oder so kleine Tricks: versuche eine Szene so enden zu lassen, daß sie ganz anders ist als am Anfang. Das sind Dinge, die man lernen kann. Das Wichtigste, glaube ich, sind Fragen und die Lust am Probieren. Oft ist man beim Schreiben zu wenig mutig, zum Teil ist es auch auf der Akademie so gewesen, da ging es immer wieder um die Frage: behauptet man das oder darf man das jetzt, gibt’s einen Grund dafür, daß man es jetzt so will?...

 

... die Frage nach der Motivation...

... das finde ich nicht die richtige Schule. Dadurch wirst du brav. Es muß alles dann ganz logisch sein. Die Welt ist aber nicht logisch. Es gibt sehr gute Filme, wo die Figuren auch nicht logisch sind. Das ist zum Teil eine zu brave Schule.

 

Du hast auf der Filmakademie gleich von Beginn an Regie und Drehbuch studiert. Was hat am Anfang bei dir überwogen? Das Schreiben oder das Bildnerische?

Ich habe schon immer sehr gern geschrieben, ich wollte immer Schriftstellerin werden. Ich hab auch als Kind sehr viel geschrieben, schon Geschichten erfunden, aber meistens diese Beschreibungen geschrieben. Ich schreibe sehr gern, viel lieber als ich drehe. Ich spüre mich da viel mehr. Obwohl ich oft höre: das Buch ist nicht schlecht, aber der Film ist besser.

 

In den meisten Fällen ist es umgekehrt.

Ja. Als ich auf die Akademie gekommen bin, wollte ich auf jeden Fall Drehbuch machen, nicht nur Regie. Ich habe vor der Akademie auch gerne fotografiert, aber das ist mir auf der Filmakademie ein bißchen vermiest worden. Bei der Aufnahmsprüfung haben sie gleich gesagt, wie schlecht meine Fotos sind. Und ich selber hab auch gemerkt, daß ich mich an der Kamera nicht wohl fühle.

 

Wie schreibst du?

Die ersten Gedanken mache ich mir in Notizbücher und Hefte, auf Zettel, usw. Ich bin nicht diejenige, die auf die Straße geht und die geniale Idee hat, und das unbedingt schreiben muß, sondern ich bin jemand, der sich das erarbeitet. Das öffentliche Leben, sei es in der U-Bahn oder in der "Aida", inspiriert mich schon, das Beobachten und Aufschreiben, oft Dialoge aufschreiben, das habe ich früher viel mehr gemacht. Ich komme jetzt viel zu wenig dazu, was eigentlich furchtbar ist. So arbeite ich am Anfang. Zum Schreiben nehme ich mir dann wirklich Zeit. Es geht auch nur, wenn man sich ganze Tage nimmt. Früher habe ich es so gemacht, daß ich unter Tags irgendetwas gearbeitet habe und am Abend noch ein paar Stunden oder in der Früh was gemacht habe. Ich merke halt, ich kann immer mehr wirklich nur schreiben. Ich schreib dann auch direkt in den Computer hinein, ich kann Zehnfinger-System schreiben und schreibe sehr gern. Ich hab schon mit 13 tippen gelernt und auch immer wieder als Sekretärin im Ferienjob gearbeitet. Ein Ansporn, mich an den Computer zu setzen ist das Haptische, das ist ein Trick. Ich hab früher recht viel Rückenschmerzen gehabt und konnte nicht sehr viel sitzen, da bin ich herumgegangen in der Wohnung, hab mich wieder hingesetzt und weitergetippt. Aber ich hab mich auch gequält, gar nicht angefangen und mir andere Tätigkeiten gesucht: abwaschen, Fenster putzen und so. Ich merke, daß das weniger geworden ist. Meine Abscheu vor diesen Hausarbeiten ist noch größer geworden, deswegen bin ich beim Schreiben geblieben.

Ich bin eigentlich auf der einen Seite ein extrem chaotischer Mensch, auf der anderen Seite liebe ich Strukturen. Deswegen erarbeite ich mir die Geschichten. Ich sitze dann den ganzen Tag vorm Computer und schreibe. Wenn ich sehr unter Druck bin, stehe ich um vier Uhr in der Früh auf und schreibe dann. Das ist meine Zeit. Ich kann am Abend sehr wenig arbeiten, da schlafe ich drüber ein. Am allerliebsten schreibe ich, wenn die anderen noch schlafen und so langsam der Lärm kommt. Meine Notizen sortiere ich im Computer und arbeite dann dran. Bei mir ist nie plötzlich die ganze Idee da, das ergibt sich schön langsam aus kleinen Punkten. Bei "Nordrand" hat mich sehr die Struktur interessiert. Ich habe die Geschichte verschachtelt, auf große Plakate aufgeschrieben, jede Figur hat eine Farbe bekommen, und ich hab mir angeschaut: wann und wie oft kommen die vor, wann begegnen sie sich wieder? etc. Dann hab ich da daran gebastelt, genauso mit Karteikarten, auch da hat jede Figur eine eigene Farbe gehabt, so hab ich geschachelt und dann die Bögen gespannt. Das ist teilweise viel gefinkelter gewesen, als der Film nun wirklich ist.

 

Diese Graphiken machst du wahrscheinlich erst, wenn du das erste heraußen hast?

Jaja. Ich schreibe so, daß ich etwas sammle. Ganz egal ob auf Karteikarten oder im Computer, ich sammle alle Bilder, die ich habe zu dem Thema, zu dem Film, zu der Idee. Dann habe ich meine Karteikarten, lege die mal nach vor und nach hinten. Wenn dann gar nicht so viel da ist, schreibe ich einmal die Sachen, die da sind, auf, und merke dann, ah, da ist noch ein Loch. Das notiere ich mir und merke, da muß noch viel passieren, damit ich dann zu der Szene da komme. Und so taste ich mich oft von ganz hinten nach vor. Ich schreib nicht von Anfang drauflos bis zum Schluß. Irgendwann in der Hälfte merke ich, da gehört davor noch das...

 

Kennst du Blockaden und Selbstzweifel?

Sicher. Bei mir sind aber die Zweifel bei der Regie sehr viel größer und furchtbarer, sodaß ich das Schreiben eben genieße. Im Endeffekt habe ich aber irrsinnig lange schon nichts mehr geschrieben. Das letzte, an dem ich gearbeitet habe, war "Slidin", "Sonnenflecken" und "Nordrand" sind fast gleichzeitig passiert. Das letzte Mal, daß ich eine neue Geschichte begonnen habe, muß schon wieder zwei Jahre her sein. Ich arbeite gedanklich schon immer wieder an anderen Sachen, aber daß ich wirklich ein ganzes Buch schreibe, das habe ich schon lange nicht mehr gemacht.

 

Wie gehst du damit zur Zeit um? Du bist ja sehr viel unterwegs, auf Festivals mit "Nordrand", usw., du hast Erfolg, stehst im Mittelpunkt? Nimmt die Außenwelt so viel Platz ein, daß du keine Zeit mehr für die Innenwelt hast?

Ich glaube ich brauche eine gewisse Pause. Ich glaube, ich muß weggehen, um zu schreiben, also von Wien weg. Ich muß einmal schauen: Ich wollte ganz gerne einmal nach Moskau, vielleicht auch nach Berlin, einfach ein oder zwei Monate nichts mit Wien zu tun haben. Aber ich muß auch sagen, ich hab das verbessert, daß ich jetzt sehr viel weniger als früher an mich heranlasse. Ich war schon mit so vielen unterschiedlichen Sachen beschäftigt, daß ich gemerkt habe, ich muß das reduzieren. Mir hat schon sehr gut getan, wie ich gesagt habe: jetzt gibt’s nur noch "Nordrand", und nicht mehr das Projekt und das und das und das... Wenn du nebenbei fünf Sachen machst, dann kannst du überhaupt nimmer. Und ich versuche jetzt auch immer mehr abzuspecken und mir den Freiraum zu schaffen, weil ich auch nicht dran glaube, daß ich ernsthaft schreiben kann, wenn ich mich nicht ein bißchen verbarrikadiere.

 

Danke für das Gespräch.

 

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