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WIE GESCHICHTEN ENTSTEHEN

 

Unsere Helden sind wir letztendlich selbst. Wir können nur das erzählen, was wir kennen. Dieses Wissen muß nicht unbedingt aus unserer eigenen Erfahrung stammen, wir sollten es aber so verinnerlicht haben, daß derjenige, dem wir die Geschichte erzählen, sie auch glauben kann. Wir müssen uns täglich neuen Erfahrungen, neuen Menschen, neuen Handlungen stellen, um unseren Horizont zu erweitern. Die wichtigste Grundvoraussetzung ist das Sehen, das Schreiben ist eine andere Sache und hat weniger mit Sprache zu tun, als mit dem Wissen, wie man einer Geschichte Form, Spannung, Rhythmus und – vielleicht das Wichtigste – den langen Atem gibt.

Dieses, ein wenig persönlich formulierte Manifest gleich vorweg. Und damit zur eigentlichen Frage: Wie entstehen Geschichten? Die Antwort ist naheliegend: mit der Idee. Doch dieser Einfall, der zum Zeugungsmoment aller Geschichten wird, verlangt nach Augen und Ohren. Freilich, auch ein Mensch, der täglich nichts tut außer essen und ausscheiden, kann auf der vielbeschworenen Toilette die großartigsten Einfälle haben. Diese kommen aber nie oder nur selten wie ein feuriger Blitz in den Kopf geschossen. Einfälle schleichen sich meist von hinten an, sind vielmehr ein Aneinanderfügen von Bildern, Situationen und Details, die man zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten wahrgenommen hat. Die Verbindungen, die zu einer guten Geschichte führen, sollten den Autor genauso erstaunen, wie sie dann idealerweise den Zuschauer bei der Betrachtung des Films überraschen werden.

Der Stummfilmautor Hans Kyser (Faust / D 1926, R.: F.W.Murnau) stellte kurz vor der Einführung des Tonfilms fest, daß beim Schreiben eines ‚Filmmanuskripts‘ "Bewegung das oberste Gebot (ist). Bewegung nicht nur im Wechsel der Schauplätze, Bewegung vor allem im standpunktwechselnden Auge der Kamera. (...) Der produktive Filmautor sieht nicht mit dem Auge der Kamera als Bewegungsmoment, mehr aber mit dem inneren Gesicht, das jeden Vorgang in spieldramatische Bildteile auflöst."1 Billy Wilder hat einmal formuliert, daß das Problem beim Drehbuchschreiben nicht die Angst ist, daß einem beim Schreiben nichts einfallen könnte, sondern daß es viel zu viele Ideen gibt: "Wenn du ein Drehbuch schreibst, dann fängst du nicht bei Null an. Du hast vier Millionen Ideen. Die mußt du dann ordnen, das Beste heraussuchen. Ein Autor ist eine Art Dichter. Aber er muß auch Architekt sein. Er muß gut organisieren können. Er muß auch Buchhalter sein. Ganz verschiedene Dinge spielen mit, wenn man 130 Drehbuchseiten schreibt." 2



Am Anfang war das Bild

Am Anfang sind es, und dies gilt nicht nur für Filmautoren, stets Bilder, die als erste auftauchen. Bilder, die Gefühle ausdrücken, weit entfernt von einer narrativen Struktur.
Das Bild, das sich einprägt und zu einer Geschichte führt, könnte man als nichts Besonderes ansehen. Schließlich ist der Sehsinn der ausgeprägteste und dominierendste des Menschen. Tatsächlich? Warum werden dann von jedem einzelnen Menschen so viele Bilder tagtäglich "übersehen"? Erinnern Sie sich an jedes Plakat, das Sie auf der Straße gesehen haben? So naheliegend ist die Behauptung nicht, daß das Sehen der exklusivste und erinnerungswürdigste aller Sinne ist. Für das Erfinden von Geschichten ist also nicht die unmittelbare Wahrnehmung entscheidend, sondern der bewußte Blick auf die Dinge. Das eigentliche Erlebnis ist nicht das Gesehene, sondern das Sehen.

Daß ein Film mit der Idee allein "gezeugt" wird, ist also nicht ganz richtig. Schließlich ist es ein ganzes Wurzelwerk, das einen Film sprießen läßt. Die Wurzeln sind in ‚Bilder‘ (Erlebtes, Träume, Imaginäres) und ‚Geschichten‘ (Erzähltes, Gelesenes, Mythen, Romane) einzuteilen, die sich erst nach und nach verweben. Eine Chronologie des Wachstums aufzustellen ist unmöglich.

Wie sich das Narrative mit dem Bildlichen verbindet zeigt ein Blick in die Weltliteratur – die Entstehung des Romans"Die Blendung" von Elias Canetti. Der Autor wollte ursprünglich die Geschichte eines "Büchermenschen" erzählen, von dem er nur wußte, daß er mit allen seinen Büchern im Feuer enden sollte. Deshalb gab er ihm zuerst den Namen Brand (im Roman hieß er schließlich Kien). Die Figur und deren Schicksal dürfte sich dem Autor unbewußt am 15.Juli 1927, am Tag des Justizpalast-Brandes, eingeprägt haben. Die Begegnung mit einem Menschen – dessen Analogie zur Romanfigur viele Jahre später von Canetti als Peinlichkeit bezeichnet wurde – geschah in einer Seitenstraße, nicht nicht weit vom brennenden Justizpalast: "Abseits, sich sehr deutlich von der Masse absetzend, stand ein Mann mit hochgeworfenen Armen, der überm Kopf verzweifelt die Hände zusammenschlug und ein übers andere Mal jammernd rief: "Die Akten verbrennen! Die ganzen Akten!"3

 

Bild = Emotion


Der Romanschriftsteller, dem zuerst das Bild erscheint, wird versuchen, aus der bildlich erlebten Emotion eine Geschichte zu machen. Er kann über hunderte Seiten seine Leser sprachlich an das ursprünglich von ihm erfahrene Gefühl heranführen. Die Bilder, die dann auftauchen, sind bei jedem Leser unterschiedlich. Der Drehbuchautor kann das nicht, gleichzeitig befindet er sich (zumindest bis zur Ablieferung des Drehbuchs) in einer unglaublichen Machtposition: er besitzt das Monopol über die Bilder, die er den Rezipienten zumutet. Einer der ganz großen Meister des amerikanischen Kinos, Richard Brooks (1912-1992), Drehbuchautor u.a. von Key Largo, Saat der Gewalt, Süßer Vogel Jugend, stellte fest, daß alles Gelesene intellektuell erfaßt wird, das geschriebene Wort wird übersetzt. "Auch im Theater müssen die Worte erst durch das Gehirn verarbeitet, übersetzt werden, obwohl es ein visuelles Element, die Bühne, gibt. Alles, was auf der Bühne passiert, ist aber ein master shot, der Schnitt wird in den Augen der Zuseher vollführt. Bei Filmen ist das Gegenteil der Fall, denn Filme sind Bilder, und man muß die Worte nicht unbedingt verstehen. (...) Die Bilder kommen zuerst und mit den Bildern, wie bei der Musik, ist die erste Reaktion emotional. Wenn die Bilder geschickt aneinandergefügt sind, kann man auch eine intellektuelle Reaktion darauf bekommen. Dabei hilft es, wenn man gute Dialoge hat, aber beim Sehen des Films muß die Wirkung wie bei einem Orchester sein."4

Am Anfang des Drehbuchs und am Ende bei der Betrachtung des fertigen Filmprodukts, tritt jeweils beim Autor wie auch beim Zuschauer, derselbe sinnliche Zustand auf: es bleibt ein Bild hängen, ein Bild, das in größerem zeitlichen Abstand beim Rezipienten das einzige ist, an das er eine Erinnerung mit dem Film verknüpft. Auch wenn man sich lange Zeit an die Handlung eines Films erinnert, wird man kaum mehr wissen, was die Figuren gesprochen haben.

 

 

Reisen und Dramaturgie

Ein Film ähnelt einer Reise. Er beginnt mit der Abfahrt und endet mit einer Ankunft. Wir Autoren gestalten diese Reise, wir sind Reiseleiter, die – im großen Unterschied zu den Kollegen von Neckermann – das Land, das sie betreten, nicht in- und auswendig kennen, sondern mit jeder neuen Geschichte Neuland betreten. Beim Reisen wie beim Erzählen gilt: die ersten Erfahrungen sind immer die stärksten. Wenn wir an einen fremden, vielleicht exotischen Ort kommen, sehen wir neue und frische Bilder wie mit dem staunenden Auge eines Kindes. Wer kennt nicht die infantile Hilflosigkeit, der wir ausgeliefert sind, wenn wir irgendwo in der Ferne, der fremden Sprache nicht mächtig, unfähig sind, den richtigen Weg zu finden oder nicht wissen, was Toilettenpapier auf Yoruba heißt . Die ersten Momente an gänzlich fremden Orten mögen die intensivsten der ganzen Reise sein - andere Menschen, Farben, Düfte, und mag es nur der Geruch eines unvertrauten Benzingemisches sein, lösen eine Reizüberflutung aus, der man erst nach Stunden und Tagen Herr werden kann.

Ein stetes Anreichern mit neuen Erfahrungen und damit die Fähigkeit, die Dinge mit Verwunderung zu betrachten, kann ein wahres Elixier für den schreibenden Menschen sein. Das heißt nicht, daß nun alle angehenden Autoren ihr Geld für Fernreisen oder psychedelische Drogen ausgeben sollten. Es ist die Neugier, die den Autor antreiben sollte, neue Grenzbereiche seiner Erfahrungen zu erkunden. Gleichzeitig muß er sich bewußt sein, welches Areal er abstecken kann und was er noch mit einem unverstellem Blick auf die Realität schildern kann. Nicht belehrender Gestus, sondern der Wille, selbst etwas Neues zu erfahren, bringt Geschichten voran. Der Autor muß seine Vorstellungen von Figuren und Berufen ständig überprüfen, er muß mit Menschen kommunizieren, die ihm fremd sind, muß ihre Sprachmuster und Verhaltensweisen kennen, um über sie schreiben zu können. Will er nicht immer nur über sich selbst schreiben, muß er vorwärts gehen und die ihm angestammte Welt verlassen.

Der road movie, der sich wie ein roter Faden durch das erste Jahrhundert der Filmgeschichte zieht, ist der reinste Ausdruck einer mythischen Filmstruktur, indem er das Substrat aller archetypischen Geschichten als zentrales Motiv enthält: den Ausbruch des Helden aus seiner gewohnten Welt. Es ist kein Wunder, daß die Erstlingswerke vieler Autoren (Regisseure) road movies sind. "Filmgeschichten sind so etwas wie Reiserouten", sagt der in dieser Hinsicht vorbelastete Wim Wenders, "sie beschreiben Orientierungswege in einem unbekannten Land, worin man sonst zu tausend verschiedenen Orten gelangen könnte, ohne je irgendwo anzukommen."5 Die Grunderfahrung der Helden von road movies ist aber auch in allen anderen Genres enthalten: die Heimkehr aus dem Unbekannten als neuer oder geläuterter oder unverwundbarer, in jedem Fall als erfahrenerer Mensch.

Alle erfolgreichen Filme variieren die mythischen Themen. Joseph Campbell hat in seinem Buch The Hero with a thousand faces nachgewiesen, daß alle Mythen über Jahrtausende dieselbe narrative Grundstruktur beinhalten. Diese dramaturgische Ur-Theorie wurde von Christopher Vogler für das neue Hollywood-Kino wiederentdeckt. Der Kreis von der Abfahrt zum Gang über die Schwelle, über die Initiation bis zur Rückkehr mit dem Elixier entspricht dem Paradigma des Heros in allen Mythen der letzten 5000 Jahre und allen guten Filmen der letzten 100 Jahre.

Helmut Färber geht sogar so weit, daß in der westlichen Kultur der Kinofilm die letzte Form der mündlichen Überlieferung sei. "In jedem (einzelnen) Film lebt bewußt und unbewußt eine Erinnerung an frühere, und spätere kündigen sich an. Die Filme erzählen ähnliche Geschichten, erzählen die gleiche immer wieder neu, dabei verändernd, modernisierend, vergessend, verwechselnd, verwandelnd."6

Die Suche nach Themen

Georges Simenon erklärte in einem Interview einmal, daß er oft wochenlang Gedanken und Themen in seinem Kopf herumgetragen hatte, dann über zwei oder drei "Probleme",

wie er es nannte, länger nachgedacht habe, und erst zwei Tage, bevor er zu schreiben begann, sich einen dieser Gedanken herausfischte, um aus ihm ein Buch zu machen. Wie das Interview zeigt, scheint auch der Autor von 281 "Derricks", Herbert Reinecker, so vorgegangen zu sein. Er nähert sich über das Thema an die Geschichten heran, und aus dieser Vorgabe konstelliert er die Figuren: "Die Hauptmotive wiederholen sich immer wieder. Mord aus Eifersucht, Mord aus Leidenschaft oder Mord aus Habgier, Konkurrenzneid, die Drogen. (...) Jeder Mensch ist eine Geschichte. Es gibt Milliarden Variationen, da gibt’s überhaupt keinen Mangel an Themen."

Der gute Krimi-Autor verfügt allerdings nicht mechanisch über musterhafte Themen, stellt Patricia Highsmith fest, und die muß es schließlich wissen. Die Themen enstünden aus der Kraft der Intuition: "Nach Themen kann man nicht suchen oder grübeln, sie erscheinen von selbst. Man soll sie – wenn man nicht in Gefahr ist, sich zu wiederholen – voll ausnutzen, denn ein Autor schreibt besser, wenn er das benutzt, was aus irgendeinem seltsamen Grund in ihm steckt."7

Freilich gibt es auch Autoren, die persönliche Erzählungen von Bekannten für ihre Geschichten nutzen. Ohne Autorisation versteht sich. Ich glaube, Oscar Wilde hat sinngemäß einmal gesagt, wenn du ein Geheimnis hast, vertraue es jedem an, nur keinem Autor. Wer Geschichten aus zweiter Hand schreibt, kann natürlich irgendwann erkennen, daß ihm entscheidende Informationen fehlen.

Der deutsche Schriftsteller Max von der Grün, dessen humorvolle, sozialkritische Geschichten vor allem in den 70er Jahren fürs deutsche Fernsehen verfilmt wurden, scheint aus leidvoller Erfahrung zu berichten, wenn er schreibt: "Ein Autor schreibt über das, was er kennt oder glaubt zu kennen. Manchmal kommt es auch vor, daß man über einem Roman sitzt, man ist mittendrin, und dann stellt man plötzlich fest: Ich kenne es nicht. Ich habe mir zuviel zugemutet. Die Erfahrungswelt fehlt mir. Ich werde theoretisch, ich werde "literatürlich". Dann gibt es nur eines: die ganze Sache abbrechen."8

Fürs Themen suchen sollte man sich also mindestens genauso viel Zeit nehmen wie fürs Schuhe kaufen. Je genauer man auswählt, umso unbeschwerter kommt man später voran.

 

True Stories

Die Geschichte liegen auf der Straße ... ist ein populärer Ausspruch. Allerdings wird er von vielen, zum Beispiel Produzenten, verwendet, die keine Geschichten schreiben. Denn so einfach ist die Sache nicht. Natürlich gibt es jeden Tag atemberaubende Stories in den Zeitungen zu lesen, doch der Sensationseffekt des Journalismus ist sehr kurzfristig. Filme brauchen mehr als eine einzige spektakuläre Erregung und Figuren verlangen nach einer psychologischen Durchdringung. Beides bieten Sensationsgeschichten nicht. Es gibt skurrile Filmgeschichten wie jene, die ich vor kurzem in einer Meldung im "Kurier" gelesen habe. Ein glühende Verehrerin des "Musikantenstadl" wollte unbedingt diese Veranstaltung in Peking besuchen. Um Geld zu sparen, nahm sie nicht das Flugzeug, sondern fuhr mit der Transsibirischen Eisenbahn Richtung Peking. Allerdings kam sie dort nie an. An der chinesisch-mongolischen Grenze wurde nämlich die Lokomotive gestohlen. Um diese Geschichte annähernd glaubhaft zu erzählen, muß ich wirklich wissen, was es heißt, zwei Wochen in einem Zug durch Sibirien zu fahren. Bevor ich diese Reise nicht gemacht habe, brauche ich gar nicht anzufangen, diese Geschichte zu schreiben. Und dann muß ich diese Figur kennen. Wirklich glaubwürdig in Szene gesetzte Zeitungsgeschichten gelingen allerdings selten. True stories lassen sich leicht in Liedern verarbeiten, wie in jenen des Sängers Tom Waits, dessen kleine, gescheiterte Helden kleinen Zeitungsnotizen aus Lokalzeitungen entstammen. Aber so ein Lied dauert bestenfalls fünf Minuten, ein Film nicht weniger als neunzig.

Gerade im amerikanischen Kino sind Zeitungsleute als Drehbuchautoren häufig am Werk gewesen. Für Richard Brooks war es ein ‘unschätzbarer Einstieg ins Drehbuchschreiben’: "Ein guter Reporter lernt sehr schnell die Regeln seines Handwerks. Das ‘wer, was, wann und warum’ einer Geschichte. Das klare und kurze Formulieren. Wie man hört, wie Leute wirklich sprechen, und nicht, wie es der Autor gerne hätte, wie sie sprechen. Man lernt ohne Angst und Wertung zu schreiben. Meine Zeit als Reporter war eine exzellente Vorbereitung für das Überleben in Hollywood, oder für jedes andere Schlachtfeld, auf dem Filme gemacht werden."9

Interessant ist die Tatsache, daß gerade in der Berufssparte der Journalisten die unerfüllte Sehnsucht groß ist, originäre Fiktion zu schreiben. Die meisten schreibenden Reporter holen ihr Material also nicht aus ihren Schubladen, sondern immer noch aus der Phantasie. Und das ist gut so.

 

 

Die Suche nach Figuren

Bei Autoren ist besonders deren Milieu entscheidend für ihr narratives Wirken und die Sprache der Figuren. Martin Walser wurde einmal von einem Interviewer gefragt: "Herr Walser, warum schreiben Sie denn nicht über Arbeiter?" Darauf antwortete Walser: "Weil ich sie nicht kenne."10 Klares Wort. Letztendlich sind die Hauptfiguren der deutschen Literatur bis weit ins 20.Jahrhundert - da ist es egal, ob man Thomas Mann oder Kafka aus dem Buchregal zieht - in bürgerlichen Berufen zu finden: Bankprokurist, Tuchreisender, kaufmännischer Angestellter, Landvermesser.

Auch der österreichische und der deutsche Film leiden darunter, daß Figuren meist aus der Oberschicht kommt. Vielleicht liegt es daran, daß im Gegensatz zu amerikanischen Autoren hier viele Schriftsteller einen akademischen Weg gegangen sind, unter Umständen zuvor Redakteure oder Journalisten waren.

Georges Simenon nahm die Namen seine Figuren aus dem Telefonbuch. Berühmt ist ja seine Methode, beim Schreiben der "Maigret"-Krimis stets den Pariser Stadtplan aufgeschlagen zu haben. Am Anfang einer Geschichte hatte der flinke Pariser Schriftsteller nicht viel mehr als eine Ahnung von der Umgebung und den Figuren. Die Namen der Charaktere schrieb er auf Briefumschläge, dazu Angaben über ihr Alter und eine Liste ihrer Familienangehörigen. "Gegeben sind: der und der Mann, die und die Frau, in der und der Umgebung. Was kann ihnen zustoßen, das sie zum Äußersten zu treiben vermag? Das ist die Frage."11 Alle dramatischen Einheiten notierte er auf Zettel, die er in die Briefumschläge steckte, welche, immer dicker werdend, ihn bis zum Ende des Romans nicht mehr verlassen sollten. Simenon war durchaus nicht jemand, der den Schluß der Geschichte zu Beginn des Schreibens schon kannte. Hatte er erst einmal den Anfang, legte er einfach los.

Die Interviews mit den hier interviewten Autoren zeigen, daß man immer noch über jene Menschen, die man kennt, und dazu gehört auch die eigene Person, am besten schreibt. Daß dabei stets "Mischfiguren" aus Realität und Fiktion entstehen, stellt auch Ernst Hinterberger fest: "Ich kenne die Leute, aber sie sind trotzdem erfunden. Ich weiß, was geredet wird, wenn Polizisten in eine Türkenwohnung kommen. Was ich nicht kenne, fange ich lieber gar nicht an. Das bringt meistens nichts."

Barbara Albert antwortete auf die Fragen, warum nur Mädchen und junge Frauen in ihren Filmen tragende Rollen spielen: "Ich würde mir auch zutrauen, über meine Mutter und ihre Freundinnen zu schreiben, aber das selbst erlebte Alter liegt einfach näher. Ich tu mir mit Männerfiguren nicht so leicht, sie interessieren mich einfach nicht so."

Eine weitere Schwierigkeit für den Autor stellt sich in der Tendenz des Zusehers, das Gesehene in der Biographie des Autors wiederzuerkennen. In gewisser Weise wird durch Filme das Leben der Urheber zu einer öffentlichen Sache. Es gibt Autoren / Regisseure, die in dieser Hinsicht überhaupt keine Auskunft über deren Biographie geben. Michael Haneke wehrt die Versuchung des Zuschauers, die Bitternis seiner Filme in seiner Persönlichkeit zu suchen, ab: "Es geht mir darum, den Zuschauer so weit zu treiben, daß er sich selber bemüßigt fühlt, Trost zu suchen oder in einer Weise ein Leben zu führen, das ihm Trost gibt. Denn sobald man ihm einen Trost hinhält, ergreift er ihn natürlich sofort."12


Am Anfang steht die Idee, das Bild, am Ende die Figuren und mit ihnen eine Geschichte. Wenn die Verbindung organisch ist, kann der Drehbuchautor mit der eigentlichen Arbeit beginnen.

 

Fußnoten:

1 Die Literatur 31 (1928/29), S.629-630; zitiert in Franz-Josef Albersmeier, Volker Roloff [Hg.]: Literaturverfilmungen, Frankfurt am Main 1989, S.40
"Billy, how did you do it", TV-Interview mit Billy Wilder, geführt von Volker Schlöndorff und Hellmuth Karasek, Teil IV

3 Elias Canetti, Das Gewissen der Worte. Essays. Carl Hanser Verlag, München-Wien. S.225
4 Interview with Richard Brooks. In: Pat McGilligan [Hg.]: Backstory 2, Interviews with Screenwriters of the 1940s and 1950s, Berkely 1991, S.71
5 Wim Wenders: Die Logik der Bilder, Frankfurt 1988, S. 72
6 zitiert bei Jochen Brunow: Erzählen in Bildern, in: Ernst, Gustav / Pluch, Thomas [Hg.]: Drehbuch schreiben - eine Bestandsaufnahme. Wien, Zürich, 1990, S. 26

7 Patricia Highsmith: Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt. Diogenes Taschenbuch, Zürich 1990
8 Max von der Grün in:Heckmann, Herbert/Gerhard Dette [Hg.]: Erfahrung und Fiktion, Arbeitswelt in der deutschen Literatur der Gegenwart, Gespräch und Diskussion. Fischer, Frankfurt 1993, S.122
9   Interview with Richard Brooks. In: Pat McGilligan [Hg.]: Backstory 2, Interviews with Screenwriters of the 1940s and 1950s, Berkely 1991, S.64f.
10   In: Heckmann, Herbert/Gerhard Dette [Hg.]: Erfahrung und Fiktion, Arbeitswelt in der deutschen Literatur der Gegenwart, Fischer, Frankfurt 1993, S.120
11 Malcolm Cowley [Hg.]: Writers at Work –The Paris Review Interviews, Georges Simenon, New York 1958,: S. 174
12
TV-Film, Interview mit Karin Resetaris

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