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INTERVIEW

HERBERT REINECKER

Moral, Disziplin und Pünktlichkeit

Die Villa am Starnberger See, in dem kleinen Kurort Berg, mutet wie ein Schauplatz aus einem "Derrick"-Krimi an. Wohlstand und Sauberkeit, eingebettet in eine grüne hügelige Landschaft - Wohnort des deutschen Erfolg-, Viel- und Schnellschreibers Herbert Reinecker. Keine Prunkvilla, wie man es vielleicht von dem erfolgreichsten Drehbuchautor im deutschen Sprachraum erwarten könnte. Der mittlerweile 84jährige Autor begrüßt mich freundlich und mit einem Lachen, sodaß ich merke, es mit einer wahren Frohnatur zu tun zu habe. Ganz der gütige, alte Onkel wie der von ihm geschaffene Oberinspektor Derrick.

Mit "Derrick" wird Reinecker in erster Linie verbunden, vielleicht auch noch mit "Der Kommissar", wiewohl Reinecker auch an die 150 Kino- und Fernsehfilme schrieb. So begegne ich dem alten Herrn mit gewissem Respekt und auch ein wenig Unbehagen, denn ich kenne ja nur einen Bruchteil seines Ouevres. Allerdings habe ich mir seinen Kinofilm "Junge Adler" aus dem Jahr 1944 angesehen. Der Film galt nach "Hitlerjunge Quex" als wichtigster nationalsozialistischer Propagandafilm zum Thema Opfergeist der Jugend. Die Geschichte, die in einer Fliegerfabrik spielt, handelt von Jugendlichen, die ihre Unzulänglichkeiten und Streiche durch übermenschlich erscheinenden Arbeitsgeist für Volk und Führer wettzumachen suchen. Perfekt photographiert spielten in "Junge Adler" die damals hoffnungsvollen Talente Dietmar Schönherr, Hardy Krüger und Gunnar Möller die tragenden Rollen.

Zwangsläufig habe ich mich mit Reineckers Biographie beschäftigt und erfahren, daß sein Karriere als junger Autor parallel mit der Ära des Nationalsozialismus verlief. Ab 1934 Schriftleiter einer HJ-Zeitschrift für das Gebiet Westfalen, danach in der Reichsjugendführung (RJF) in Berlin, wo er als Redakteur der Jungvolk-Zeitschrift "Der Pimpf" tätig wurde. 1940 tritt er in die Kriegsberichterkompanie der Waffen-SS ein und berichtet aus Bessarabien, Norwegen und von der Ostfront. Im Mai 1942 übernimmt er neben der "Pimpf"-Redaktion zugleich die Hauptschriftleitung der Hitlerjugend-Reichszeitschrift "Junge Welt". Daß er neben seinen journalistischen Arbeit auch noch Theaterstücke schrieb und ab 1942 für den Film arbeitete, bezeugt das Lebensmotto von Reinecker: Produktivität auf allen Linien.
Daß Reinecker überzeugter Nationalsozialist war, liegt auf der Hand. Mich interessiert, wie er zu seiner Vergangenheit steht und mich befällt wie immer, wenn ich mit Menschen aus dieser Generation spreche, eine gewisse Hilflosigkeit. Wie kann ich, als relativ junger Mensch, mit jemanden über eine Zeit sprechen, in der er genauso jung wie ich war. Ich beobachte immer wieder, daß Menschen dieser Generation gekränkt darauf reagieren, wenn man ihre Jugend – und die Erinnerung daran ist der Trost ihres Alters -, in Frage stellt. Also frage ich mich, ob, wann und wie Reinecker diese Zeit kritisch reflektiert hat und stoße in meiner Recherche auf recht offenherzige Erinnerungen, in denen er zwar zugibt, sich getäuscht zu haben, die aber keinen Zweifel daran lassen, daß die Zeit bis 1945 die schönste seines Lebens war. Noch 1990 schreibt Reinecker in seiner Biographie: "Wir sausten herum im offenen Wagen. Die Hochzeitsreise ging nach Wyk auf Föhr, man pflegte damals am rechten oder linken Kotflügel kleine Standerstangen mitzuführen. Für die netten, kleinen, fröhlichen Hakenkreuzflaggen - die damals wirklich noch so wirkten: freundlich, fröhlich, siegbewußt..." (Zeitbericht, S.65) Es ist wiederum diese naiv wirkende, und doch in die Sprache eines Schriftstellers gekleidete Idealisierung einer "Bewegung", wie sie Reinecker auch im Interview noch bezeichnet.

Ich sehe zwei weitere Filme nach Drehbüchern Reineckers: "Canaris" (1953) und "Kinder, Mütter und ein General" (1954). Gerade letzterer Film ist beinahe ein pazifistisches Bekenntnis. Der Plot: Mütter holen ihre halbwüchsigen Söhne vom Schlachtfeld zurück. Eine Wendung, die geradezu verblüfft, liest man die Durchhalteparolen, die der NS-Journalist gegenüber Jugendlichen nur zehn Jahre zuvor verfaßt hatte: "Ob du jetzt oder in einem halben Jahr an die Front gehst, ist nicht so wichtig wie die Tatsache, daß du es lieber jetzt als später tun willst. Das Hindrängende, der sanfte, aber unerbittliche Wille, etwas für den Sieg zu tun, und zwar dort zu tun, wo er entschieden wird, an der Front, obwohl du schon weißt, was Blut ist und was Schmerzen sind, das macht mich glücklich." (Junge Welt, Nr. 7, September/Oktober 1944). Nach dem Krieg mußte Reinecker kurzfristig "untertauchen", konnte aber bald weiterarbeiten. In Deutschland gab es kaum Autoren, die mit Arbeitsverbot belegt wurden. Im deutschen Nachkriegsfilm waren insgesamt 157 Autoren beschäftigt, die auch zwischen 1933 und 1945 Drehbücher verfaßt hatten. Bis 1953 deckten diese Szenaristen etwa 90% aller deutschen Filmgeschichten ab.1 Herbert Reinecker leistete einen großen Beitrag, daß diese Tatsache nicht ohne Auswirkungen auf das generelle ästhetische Niveau der Filme blieb.

Das Gespräch mit Herbert Reinecker bringt keinen Aufschluß über seine damaligen Beweggründe und auch kein Schuldbekenntnis. Es ist aber spürbar, daß damals die Saat für die Tugenden seines Erfolgs als Drehbuchautor gelegt wurden: Moral, Disziplin und Pünktlichkeit. Dazu kommt die reiche Erfahrung und durchgehende Beschäftigung in den 50 Jahren nach dem Krieg. Reinecker hatte es immer leicht, Aufträge zu bekommen, da er ein unglaublich reiches Reservoir an narrativen und dramatischen Situationen in Windeseile zu Papier bringen konnte. Er schrieb Dokumentarfilme, Lustspiele, Krimis, Western, adaptierte Tucholsky, Zweig und Hauptmann, und schrieb, einer alten Leidenschaft folgend und dabei den Filmtrend der späten 50er Jahre treffend, auch Kriegsfilme wie "Der Stern von Afrika" (1956) und "Der Fuchs von Paris" (1957).

Reineckers durchgehende Beschäftigung als Drehbuchautor, immerhin 60 Jahre, ist wohl einerseits auf seine selbstverständliche Anpassung an den jeweiligen Zeitgeschmack und die wirtschaftlichen Bedingungen zurückzuführen, aber auch auf die jahrzehntelange Freundschaft mit Kollegen. Alfred Weidenmann inszenierte zum Beispiel nicht nur "Junge Adler" und "Canaris", sondern auch noch 50 Jahre danach "Der Kommissar" und "Derrick"-Folgen. Ebenso wichtig ist die Zusammenarbeit mit dem Münchner TV-Produzenten Helmut Ringelmann zu sehen, der sein wirtschaftliches Auslangen mit monatlich abgelieferten Reinecker-Drehbüchern und der schnellen Produktion von Krimiserien fand. Ab 1968 arbeitete Reinecker an der Serie "Der Kommissar", die sich im Laufe der Jahre vom Polizeireport zur paternalistischen Saga entwickelte. 1975 war nach 97 Folgen Schluß. Verantwortlich dafür war Hauptdarsteller Erik Ode: "Ich hab in den acht Jahren sehr viel gekämpft mit dem Autor, gekämpft um Humor und Leichtigkeit, um eine Art souveränen Humor. (...) Herr Reinecker hat sein Niveau nie verloren, aber er hat überhaupt keinen Humor, und wurden irgendwo einmal ein paar Lichter aufgesetzt, waren sie nicht von ihm. (Ode zu B.Witter, Die Zeit, 11.7.1975). Die anschließend in Angriff genommene Serie "Derrick" wollte noch höhere moralische Werte vermitteln. In den Dialogen der Figur des Oberkommissars finden sich so manche Lebensweisheiten des Autors Reinecker wieder. Nach anfänglichen Schwierigkeiten entwickelte sich "Derrick" zur erfolgreichsten deutschen Krimiserie aller Zeiten. Und Reinecker, der in seinen Drehbüchern die Nazi-Zeit nie kritisch reflektierte, gelang es mit "Derrick" das Bild des Deutschen im Ausland, fern von Fußball-Hooligans und sauerkrautfressenden Urlaubern, nachhaltig ins Gute zu rücken. In 101 Ländern schätzten Millionen von Zuschauern den aufrechten, weil so korrekten, so gewaltlosen und kollegialen Oberkommissar, der mit trüben Beamtenaugen und zäher Beharrlichkeit das Böse in die Enge trieb.
Es ist ihm nicht zu verübeln, daß er stolz darauf ist, daß man "Derrick" auf der ganzen Welt kennt. Einen Wunsch während des zweistündigen Gesprächs in seiner Villa kann mir Herbert Reinecker leider nicht erfüllen. Zu gern hätte ich einmal "Derrick" auf Chinesisch gesehen. Aber, kurz bevor ich gehe, kann mir der liebenswürdige alte Herr eine andere asiatische Spezialität anbieten: einen Bildband über die Hitlerjugend – auf Japanisch.

  

INTERVIEW. AUGUST 1998

 

Seit wann schreiben Sie bzw. haben Sie immer schon geschrieben?

Von Anfang an. Schon in der Schule. Meinen ersten Roman hab ich schon mit elf Jahren geschrieben, der logischerweise nichts taugte. Die Beziehung zur Sprache war von vornherein da und sich auszudrücken ein großes Vergnügen.

Mit 15 hatte ich einem Verlag, einem Pressedienst, meine erste Kurzgeschichte geschickt, die hieß: "Zwei Menschen". Die wurde gleich angenommen, gedruckt und ich bekam mein erstes Geld.

 

Die erste Kurzgeschichte, die Sie geschrieben haben, haben Sie sofort verkauft?

Stimmt. Für 30 Mark, lauter 5-Mark-Stücke. Ich weiß noch, ich hab mir davon Schlittschuhe gekauft.

 

Haben Sie in der Jugend Menschen gehabt, die Sie beim Schreiben gefördert haben? Lehrer, Mentoren?

Ein Lehrer, der in der Hagener Zeitung die Jugendbeilage leitete, hat mich aufgefordert, zu schreiben. Er hat mir die ersten Schritte beigebracht, hat mich mitgenommen zu den Versammlungen und hat mich dann gewissermaßen in das "Wer, was, wo, wie, wann, usw." eingeführt. Da hab ich meine ersten kleinen Artikel dort in der Zeitung geschrieben. Ich hab aber keine Presseschule besucht, das gab’s damals noch gar nicht. Wissen Sie, ich war ja in der Jugendbewegung - Hitlerjugend. Ich hab mein Abitur 1934 gemacht, da war das Dritte Reich längst etabliert. Man fragte mich, ob ich eine Jugendzeitschrift machen wollte und ich hab ja gesagt. Dann war ich in Münster und hab die Landesjugendpflegezeitschrift gemacht. Gleich nach der Schule war ich Hauptschriftleiter einer Zeitung.


War das eine Parteizeitung?

Nein, nein. Das war eine existierende Zeitung, von der Landesregierung aus.

Wissen Sie, das ging alles wie von selbst. Man mußte hin zur Druckerei, wurde dort eingewiesen, man lernte die Setzer kennen, man hat die Schriftarten kennengelernt, die Bilder eingesetzt. Da hab ich dann angefangen, neue Formen zu entwickeln. Ich wollte Journalist werden, ohne das als eine Sensation zu betrachten. Es schien mir damals ein ganz normaler Werdegang zu sein. Nach einem Jahr hatte ich die Zeitschrift so gut gemacht, daß man mich einlud, in die Reichsjugendführung zu gehen. Ich war dort in der sogenannten Presseabteilung. Die hatten eine große Zeitung für das Jungvolk. Dort habe ich praktisch das weitergemacht, was ich mit der Landesjugendpflegezeitschrift angefangen habe. Eines Tages kam dann ein Freund zu mir und fragte mich: Willst du für den John Jahr-Verlag in Berlin einen Roman schreiben? Ich sagte, ich kann doch keinen Roman schreiben. Darauf sagte er, das macht nichts, du schreibst ein Exposé und wir sagen, ob das gut ist oder nicht. Wir machen gleich einen Vertrag. Ich kam mir recht leichtsinnig vor, ich dachte, ich kann das doch gar nicht, ich betrüge die Leute.

 

Was für ein Roman war das?

Das nannte sich "Der Fall Rainer" und betraf das Ende des Ersten Weltkriegs mit einer Geschichte, die zwischen Ungarn und Wien spielte. Ein historischer Roman. Die Tobis wollte den Roman verfilmen, und die haben gesagt: "Sie sind jung, Sie haben den ersten Roman geschrieben, aber Sie wissen nicht, wie man Drehbücher schreibt. Wir laden Sie ein, sich 14 Tage alles in der Tobis anzusehen, Ateliers, Schneideräume, usw. und hoffen, daß Sie was davon haben." Dann wurde ich an die Seite eines erfahrenen Mannes gegeben. Wir haben dann das Drehbuch zusammen geschrieben.

 

Da haben Sie das Handwerk gelernt?


Ja. Obwohl das ist nur Anlernen. Richtig lernen tut man erst im Laufe der Jahre, enn sich die Erfahrungen eingestellt haben und wenn Sie ihre eigene Arbeit sehen. Heute gebe ich ein Buch ab und kümmere mich überhaupt nicht mehr drum. Ein Drehbuchautor hat mit der Herstellung nichts mehr zu tun. Der stört nur. Ich gehe auch nicht zum Drehort. Aber nachher sehe ich ganz genau hin und prüfe meine Arbeit. Wie hab ich meine Geschichte erzählt? Und da lernen Sie im Laufe der Jahre sich so auszukennen, daß man irgendwann sagen kann, man ist ein Routinier.

 

Ich hab jetzt im Archiv einen Film gesehen aus dem Jahr 1944, "Junge Adler", zu dem Sie auch das Drehbuch geschrieben haben: Wie ist es zu diesem Film gekommen?

Ich hatte einen guten Freund, Alfred Weidenmann. Wir haben auch nach dem Kriege viele Filme zusammen gemacht. Er war Regisseur, guter Fotograf und leitete die "Jugendfilmstunde". Da hat man ihm gesagt, du kannst einen Spielfilm über die Jugendbewegung machen. Da hat man mich wieder gefragt, ob ich ein Exposé schreiben würde. Das habe ich geschrieben, konnte aber das Drehbuch nicht weiterschreiben, weil ich als Kriegsberichter wieder an die Front mußte. Das Drehbuch haben dann Weidenmann und Liebeneiner weitergeschrieben. Was daraus entstand, war nicht mehr mein Drehbuch, aber ich stand mit drauf, oder es stehe überhaupt nur ich drauf. Das ist eine der Erfahrungen, die sich später wiederholen sollte.

 

Dieser Film diente auch Propagandazwecken. Ist es für Sie eine Genugtuung, wenn Sie heute von Bundeskanzler Kohl hören, Sie hätten mit "Derrick" das Bild des Deutschen im Ausland positiv korrigiert? Haben sich Schuldgefühle aufgelöst?

Welche Schuldgefühle?

 

Schließlich waren Sie Journalist in einer Zeit, wo es in diesem Beruf auch darum ging, Propaganda zu machen und die Volksmoral aufrecht zu erhalten?

Jetzt seien Sie aber vorsichtig! Also, ich habe mehrere Jahre lang eine Jugendzeitschrift gemacht. Mir hat niemals irgendjemand gesagt, was ich tun muß. Das war ja eine Unterhaltungszeitschrift für Jugendliche. Und ich geb Dir Geld, wenn Du mir nur einmal nachweisen kannst, daß in einem dieser Hefte das Wort "Jude" überhaupt vorgekommen ist. Ich habe nicht das geringste Schuldgefühl. Wissen Sie, wenn mich jemand fragt, ob ich eine Nazi-Vergangenheit hatte, dann sag ich, jeder, der 1914 geboren wurde, hatte eine. Das ist doch logisch. Der ist hineingewachsen in die Zeit und hat diese Dinge anders erkannt. Weil sie mit eigenen Erlebnissen verbunden waren.

Das Problem der deutschen Jugend von damals liegt darin, daß sie den Nationalsozialismus falsch interpretiert hat. Sie haben ihn besser gesehen, als er war. Weil sie keine Hintergründe kannten, keine Erfahrung. Heute weiß jeder alles.


Ich wollte Sie auch nicht zur Verantwortung ziehen. Aber ist in Ihnen keine Schuld aufgekommen, als Sie von den Judenvergasungen erfuhren?

Schuld, Schuld?! Das ist eines der entsetzlichsten Dinge, die es gibt. Das haben wir alles noch gar nicht richtig begriffen, was das bedeutet. Wir haben den großen Welttaten eine hinzugefügt: dem Auszug der Chinesen aus Ägypten [meint Juden], die babylonische Gefangenschaft, die Zerstörung des Tempels von Jerusalem und jetzt der Holocaust. Das hat dieser schreckliche Mensch auf uns geladen. Damit werden wir auch nicht fertig.

Ich wundere mich zum Beispiel über die Franzosen. Wir haben einen "Derrick"-Fanclub in Straßburg. Da kommen die nettesten Leute zu mir, da merkt man genau, die haben die Unschuld der Geschichtslosen. Ihr nationales Selbstbewußtsein ist nicht in Zweifel gestellt worden. Das ist bei den Italienern genauso. Nur wir sind befrachtet damit. Wir sind heute negativ eingestellt, unsere ganze Schreibrichtung ist negativ. Unsere Denkrichtung ist negativ, unser Journalismus ist negativ. Und in dieser negativen Welt leben wir leider sehr unglücklich. Die Jugend ist unglücklich, ohne eigentlich zu wissen warum.

 

Wie haben Sie das Kriegsende miterlebt?

Ich habe im März 45 in der SS-Zeitung "Das schwarze Korps" einen Leitartikel geschrieben, der hieß "Völker! Hört die Signale!". Da stand drin, wir haben den Krieg verloren, und jetzt geht es darum, Europa neu einzurichten. Natürlich gegen die Kommunisten, nicht wahr. Aber zum ersten Mal stand da drin, daß wir den Krieg verlieren. Dieser Leitartikel erschien immer anonym, und mein Kommandeur rief mich an und sagte: "Ich mußte Goebbels leider ihren Namen nennen. Ich geb Ihnen nur einen Rat, packen Sie einen Handkoffer und wir bringen Sie zum Sonderzug." Ich wurde ins Sudetenland gefahren, dort war ein Sonderzug für die Presse. Propagandakompanien, Kriegsberichterkompanien, für den Fall, daß es eine Alpenfestung gegeben hätte. In Kärnten wurden wir von Montgomery angefunkt, D’Alquen, der General der Propagandatruppen, soll sich ergeben mit seinem Stab. D’Alquen hat uns vorher gesagt, wir sind frei. Ich bin dann mit einem anderen losgegangen, bis ins Gailtal. Wir haben dort auf einem Bauernhof drei Wochen überlebt. Ich hab meine Schreibmaschine mitgehabt und dort angefangen, ein Theaterstück zu schreiben. Jetzt waren wir natürlich alle Raucher. Wir hatten Tabak und kein Papier, und mein Theaterstück hab ich auf Durchschlagpapier geschrieben, das sich fürs Zigarettendrehen eignete. Jedenfalls haben wir nach und nach mein Theaterstück geraucht. Ich habe es auch nachher nicht mehr zusammengekriegt.

 

Haben Sie nach dem Krieg Probleme bekommen?

Insofern, als ich mich entnazifizieren mußte. Ich bin aber nicht hingegangen, ich bin nie entnazifiziert worden. Ich hab das nicht gewollt und nicht gebraucht. Als ich es brauchte, nämlich ein paar Jahre später, 1950, schrieb ich ein Hörspiel für den damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk in Köln. Leute, die sich im Rundfunk betätigten, brauchten einen Entnazifizierungsschein. Den hatte ich nicht, also meldete ich mich zwei Jahre später bei der sogenannten Spruchkammer, die fragten mich, wann sind Sie geboren, ich sagte, 1914, dann sind Sie vom Gesetz nicht betroffen, sagten sie. Zwei Jahre vorher hätten sie mich wahrscheinlich in ein Arbeitslager gesteckt.

 

Wie haben Sie trotzdem den beruflichen Wiedereinstieg geschafft?

Ich hab das Hörspiel geschrieben, das wurde gesendet. Dann hab ich mein erstes Fernsehstück geschrieben, in Hamburg, "Abteilung für Notwohnung". Das wurde in Heilig-Gaisfeld gemacht, das war damals ein Riesen-Luftschutzbunker und das erste Fernsehstudio. Dann kam mein Freund Weidenmann und sagte, die "Shell" wolle einen Kulturfilm machen. Schreibst du? Sagte ich, ja. Wir haben uns die "Jugendstrafinsel Hannoversand" ausgesucht, so hieß der Film dann auch. Er bekam sofort den Bundesfilmpreis.

Dann kam "Canaris", dafür hab ich wieder den Bundesfilmpreis bekommen. Das war 1954. Die Preise habe ich alle unten im Keller. Als mir der Innenminister den Preis überreicht hat, hab ich zu Alfred Weidenmann gesagt, du, ich glaube, jetzt gehören wir wieder dazu. Dann ging’s los mit vielen, vielen Spielfilmen.

 

Wie haben Sie für "Canaris" recherchiert?

Nach vorhandenen Büchern, die es damals gab und die gerade rausgekommen waren. Ich wurde sogar von einem englischen Secret Service-Mann beraten. Er sagte gleich am Anfang, ich helfe Ihnen gerne, ich will dafür einen Mercedes. Sagte ich, da müssen sie mit dem Produzenten sprechen. Er sah sich immer vorsichtig um und war drogensüchtig. Er war eher die Comicfigur eines Secret Service-Mannes.

 

Von den Filmen, die die NS-Zeit aufarbeiteten, scheint mir "Kinder, Mütter und ein General" am persönlichsten zu sein.

Ja, so wahr, wie ich es erlebt habe. Ich war in Püritz in Pommern während der letzten Zeit des Krieges, und hörte davon, daß Schulkinder zurückkommen sollten. Aber wegen der Bombardierung der Strecken hat sich der Vormarsch der Roten Armee verzögert. Die Jungs haben gesagt: "Nee, nee, wir lieben unser Vaterland" und gingen an die Front. Ich weiß nur, daß Mütter sie gesucht haben. Ob sie sie gefunden haben, das weiß ich nicht. Das war der Anlaßpunkt und daraus wurde dann: Was ist, wenn sie sie nicht mehr finden, und wo müssen sie hin? Daraus kam der verrückte Gedanke, dann müssen die Mütter aufs Schlachtfeld. Als der Film herauskam, hatte eine Hamburger Zeitschrift geschrieben: "Ein Nobelpreis für diese Idee!" Mütter machen das nicht mit – ich hab’s zum ersten Mal ausgesprochen

 

 Haben Sie vorher das Drehbuch oder den Roman geschrieben?

Ich hab vorher den Roman geschrieben. Das war ja die tolle Geschichte. Der berühmte Anruf aus Hollywood kam. Laszlo Benedek war ein ungarischer Jude, bekannter Regisseur in Kalifornien, er hatte zuvor mit Marlon Brando "Der Wilde" gemacht, ein toller Typ. Der hat das Buch gelesen und ihm gefiel die Idee "Mütter holen ihre Söhne vom Schlachtfeld zurück". Erich Pommer war der Produzent, er hat das Buch gekauft, den Film produziert und Laszlo Benedek kam nach Hamburg.

 

Wär’s für sie möglich gewesen, nach Hollywood zu gehen?

Dazu muß man geboren sein, die Sprache kennen. Ein Freund von mir, Max Colpet, war so ein Typ. Der war vor mir in Berlin-Babelsberg und hat dort Filmdrehbücher geschrieben, ging dann nach Paris, war dort mit Billy Wilder zusammen und hat dort Filme geschrieben, unter anderem für Danielle Darieux . Ich sagte: "Max, wie hast du das gemacht ohne Französisch?" Sagte er: "Ach, ich hab immer wen gefunden, der das übersetzt hat." Das ging.

 

Ihre Filme, Serien, Stücke sind oft kritisiert worden. Kränkt Sie das?

Ebenso oft bin ich geliebt worden. Ich bin gehaßt und geliebt worden. Ich kenne Millionen Leute in aller Welt, denen ich vertraut und bekannt bin. Es gibt auch viele, die mich nicht mögen, das gehört dazu. Ich kann bei zehn Millionen Zuschauern, die ich in Deutschland habe, nicht erwarten, daß ich zehn Millionen Liebhaber habe. Das Einzige, was ich nicht vertragen könnte, wäre Gleichgültigkeit. Ich habe vielmehr versucht, Dinge zu schreiben, die einen nicht ganz gleichgültig lassen. Alles, was Menschen versucht zu erklären, aufzuklären, bloßzulegen, Mentalitäten zu zeigen, schlechte und gute, das sind alles Zeitbilder und jedes Zeitbild hat eine politische Aussage, die mehr oder weniger konsequent formuliert ist

 

Sie haben ja nicht nur im eigenen Namen geschrieben, sondern auch unter Pseudonym?

Ja, Alex Berg... (lacht)

 

Warum haben Sie das gemacht?

Die Zeit für Kino und Spielfilme ging zu Ende. Es gab einen ganz deutlichen Umbruch in der Filmszene, der dann merkwürdige Umwege nahm über die ersten Sexfilme wie "Schulmädchen-Report" und so. Das war nicht mein Bier. Ich hab halt so Filme wie Edgar Wallace und Jerry Cotton geschrieben.

 

Auch Karl May, wenn ich mich nicht irre?

Nur einmal. "Winnetous Tod" oder sowas. Man hat ja gesagt, diese Edgar Wallace-Filme seien schrecklich. Sie entsprachen natürlich nicht meinen höheren Absichten, aber es gehört dazu, daß man sein Leben auf notwendigem finanziellen Niveau fortsetzt.

 

Das war aus finanziellen Gründen?

Ja auch. Fernsehen gab's ja noch gar nicht. Der Film hörte auf und ging über in andere Hände. Wissen Sie, ich möchte diese Zeit nicht missen, diese Bücher sind meine Bücher und doch nicht meine Bücher. Da gab's die schönen Szenen mit Wendlandt und Fredi Vohrer, dem Regisseur. Da saßen wir alle zusammen und haben gesponnen.

 

Sie haben in dieser Phase sehr viel geschrieben. Da hab ich "Die Goldsucher von Arkansas", "Mordnacht in Manhattan", ...

Ah, Jerry Cotton.

 

"Der Mörderclub von Brooklyn"

Jerry Cotton ... oder ... Edgar Wallace.

 

"Die blaue Hand"

Ja, ja...

 

"Der Mönch mit der Peitsche"

Der Mönch?

 

"... mit der Peitsche"

Aha.

"Der Hund von Blackwood Castle"

Soso.

 

... und "Der Tod im roten Jaguar"...

... im roten Jaguar, jaja.

 

... und dann "Winnetou und Old Shatterhand im Tal der Toten"

Ach, so hieß das.

 

... und zwischendrin, das war alles zwischen 1964 und 68, haben Sie "Rheinsberg", eine Tucholsky-Adaption gemacht?

Schauen Sie, ich hasse Leute, die ganz elitär sagen, ich geh meinen Weg, ich schreib nur hochgestochene Sachen, usw. Die Zeiten waren ja auch gar nicht mehr danach. Wir waren Schriftsteller und das war ein Baden in Ursituationen. Wenn Sie erwarten, daß ich mich geniere, das tu ich überhaupt nicht.

 

Wenn Sie etwas schreiben, wissen Sie dann schon, das könnte bleiben, das könnte von Wert sein...?

Das, wovon ich glaube, daß es nicht zu bleiben geeignet ist, das kann ich unter Alex Berg leicht abheften.

 

Was war der erste Krimi, den Sie geschrieben haben?

Es gab ja auch Spielfilme, die schon Krimis waren. Dann holte mich der Produzent Ringelmann, der bei der Intertel Geschäftsführer war und fragte mich wegen der Dreiteiler. Da war gerade der Durbridge so bekannt geworden, sagte er: "Machen wir auch." Das Muster war vorgegeben und ich fing das an: "Der Tod läuft hinterher", "11 Uhr 20" und "Babeck", der ja ein Klassiker geworden ist. Dann sagte der Ringelmann, ich mach jetzt eine Serie - "Der Kommissar". Können Sie mir 13 Folgen schreiben? Ich dachte, ich fall aufs Kreuz. 13 Folgen! Bislang war man immer der Meinung, ein Werk ist ein Werk, und das braucht seine Zeit und der Respekt gilt dieser einen Sache. Ich probierte das und da ich mit Schreiben nie Schwierigkeiten hatte, waren da plötzlich 13 Folgen, und daraus wurden 97. Da war die Komposition der Figuren noch anders als bei "Derrick". Der Ode war ein anderer Typ, ich war noch der realistischen Zeitbetrachtung näher. Mit "Derrick" ist das was anderes gewesen. Bei "Derrick" habe ich das Thema erhöht.

 

Es ist moralischer geworden?

Die anderen waren auch moralisch. Bei "Derrick" war aber das Konzept ganz anders. Dieses Konzept ist nur deswegen beibehalten worden, weil wir die Serie beibehalten haben. Der Derrick war zum Beispiel ein Mann ohne Frau. Der hatte aus ganz einfachen Gründen keine Frau. Weil wir die Schauspielerin nicht gefunden hätten, die sich so lang mit einer Nebenrolle begnügt hätte. Das tut eine gute Schauspielerin nicht. Und die Frau des Kommissars ist zusätzlich nur eine Farbe, die spielt gar nicht mit. Der Fall ist es, der Kommissar mit seiner Arbeit ist die Geschichte. Aber 280mal stellt sich keine Frau hin und kocht Krautkartoffeln.

 

Es gab 280 Folgen "Derrick". Bestand da nicht Gefahr, daß man sich wiederholt?

Gewisse Dinge wiederholen sich schon. Die Hauptmotive wiederholen sich immer wieder. Mord aus Eifersucht, Mord aus Leidenschaft oder Mord aus Habgier, Konkurrenzneid, die Drogen. Ich glaube, nach Schiller gibt es nur 49 dramatische Grundsituationen. Jeder Mensch ist eine Geschichte. Es gibt Milliarden Variationen, da gibt’s überhaupt keinen Mangel an Themen.

 

Haben Sie Ihre ganzen Drehbücher irgendwo gesammelt?

Ja, die hab ich unten im Archiv.

 

Wie groß ist das Archiv?

Sie können sich's gleich anschauen. Ich kann's Ihnen gerne zeigen.

 

 

 

IM ARCHIV


Am dunkelsten Ort der Villa - im Keller - das Heiligtum: das Archiv mit allen Reinecker-Drehbüchern. Allein ein Wandregal ist nur mit "Derrick"-Büchern belegt. Drehbücher über Drehbücher, der mittelgroße Raum ist bis zur Decke angefüllt. Papier über Papier, gebunden, geheftet – ein Leben. Fast alle Manuskripte hat Reinecker mit der Olympia-Schreibmaschine geschrieben. Zwischen den Büchern, fast versteckt, einige Preise. Bambis, deutscher Filmpreis, etc. Ich frage, ob er wohl den ersten "Derrick", den er geschrieben hat, hervorholen kann. Es dauert nicht lange und Reinecker zieht ein Manuskript heraus. "Sagen Sie mir was da draufsteht?" fragt er. "Waldweg". Tatsächlich, der allererste Derrick aus dem Jahr 1974. Wie bei fast alle anderen Bücher liegt nur eine Erstfassung vor. Änderungen sind als kleine ausgeschnittene, maschinengeschriebenen Schnipsel über das Originaltyposkript geklebt.

 

Frage: Ich habe mir diese Folge im ORF-Archiv angesehen. Ein Lehrer verführt eine seiner Schülerinnen in den Wald und tötet sie. Das war fast expressionistisch gemacht. Da war der Mörder von vornherein bekannt. Das hat sich dann doch geändert?

Am Anfang hatte ich die folgende Überlegung angestellt. Ich fragte den Ringelmann: Wie sehen normale Krimis aus? Sie lassen sich zurückführen auf einen einzigen Satz: Wer hat es getan? Und ich sagte, es ist doch viel interessanter zu zeigen, wie jemand zu einem Verbrechen kommt. Das ist ja der interessante Vorgang. Ich sehe so ganz normale Leute und weiß ganz genau, am Ende wird ein Mord stehen. Aber wie kommt jemand dazu, warum tut er das. Das kann ich dann original zeigen. Nicht in Rückblenden.

Bei "Waldweg" hat mich eins irrsinnig geärgert. Und zwar, da holt er das Mädchen in sein Zimmer, und dann seh ich, wie er sie umbringt. Fürchterlich. In Zeitlupe würgt er sie. Schauen Sie, was ich geschrieben hatte: Das Fahrrad stellt sie draußen ab und sie geht rein. Dann kommt er wieder raus, nimmt das Fahrrad und schmeißt es weg. Ist das nicht viel besser? Muß ich den Mord sehen? Ich war so entsetzt und wütend.

 

Zumindest hatte diese Folge etwas, was spätere "Derricks" nicht mehr hatten: starke Bilder!

Natürlich. Jetzt fangen wir immer mit einem Toten an. Jetzt muß ich da mühsam Spannung reinbringen, was immer eine Riesenschwierigkeit gewesen ist. Manchmal gab’s tolle Geschichten, aber ich konnte sie nicht zeigen, weil ich brauchte den Toten am Anfang oder ich hätte alles in Rückblenden zeigen müssen. Rückblenden sind aber unbeliebt, weil sie den Zuschauer manchmal verwirren. Auf die interessante Geschichte, die Geschichte des Täters oder des Opfers und den Mord muß ich trotzdem rückblenden, weil ich sie sonst nicht erleben kann.

Wir hatten eine Zeitlang eine Zwischenlösung: der Zuschauer kennt den Mörder, er hat den Mord erlebt, und jetzt geht der Kommissar los und muß mühsam suchen und der Zuschauer hat das Vergnügen zu sehen, ob er das richtig macht oder nicht. Eine ganz andere Art von Vergnügen. Das machten wir dreimal und dann hat einer geschrieben in der Zeitung: Wird Derrick das überleben? Und die Bild-Zeitung war auch empört, der Zuschauer muß doch raten können. Also das uralte Mörder-Findespiel – und auf das haben wir das dann geändert.


Warum haben Sie mit "Derrick" aufgehört?

1997 wurde eine Augenkrankheit so akut, daß ich nicht mehr lesen konnte. Ich sehe alles, nur nicht so konturiert scharf. Buchstaben sind sehr klein, die entziehen sich mir. Das bedeutet, ich kann nicht mehr schreiben, sondern ich diktiere jetzt. Das ist eine Umstellung gewesen, von der ich nicht wußte, ob sie mir gelingen wird. Deshalb habe ich rechtzeitig dem Ringelmann gesagt, Alter, ich höre auf, wenn ihr die Serie fortsetzen wollt, müßt ihr einen anderen Autoren holen. Und das haben Sie nicht gewollt oder nicht gemacht und sie hatten gute Gründe. Ich hab 280 "Derrick" geschrieben. Das bedeutet jeden Monat ein Buch. Es gibt keinen Autoren, der diesen Stil fortsetzen kann. Oder man hat das Experiment gescheut, Derrick zu verändern oder zu verjüngen.

 

 

Wie schreibt man in einem Monat ein Buch?

Mit Freude. Ich hab mir diese "Derrick"-Welt ja selber aufgebaut. Ich habe es genossen, mich in meiner eigenen Welt bewegen zu dürfen, habe mir die Themen aussuchen können, die mir in den Sinn kamen und hatte mein Muster, das war überhaupt kein Problem für mich.

 

Bevor wir wieder ins Wohnzimmer zurückgehen, zeigt mir Reinecker, wie er den Überblick über die vielen, meist gleichzeitig laufenden Projekte behalten hat. Er zieht einen Ordner aus dem Regal, darin der Kalender des Autors, sein Zeitplan. Wahllos schlagen wir in den 80er Jahren nach: jedes Monat ist mit mindestens vier bis fünf Projekten (Serienfolgen, TV-Episoden, Bücher, etc.) belegt, einzeln in Farben dargestellt, je nach Länge mit 2 bis 10 Tagen kalkuliert. In Filmminuten sind das wohl gute drei Stunden im Monat.

 

 

Wie war die Arbeitsweise beim "Derrick"?

Ich hab immer ein Blatt Papier hingelegt, und gesagt, die Geschichte spielt sich ungefähr ab zwischen diesen und jenen Personen - zwei, drei, vier, fünf – mehr dürfen es nicht sein. Sie brauchen vier, fünf gute Rollen, sonst will sie keiner spielen. Sie dürfen nicht zu viele Personen haben, und jede Person muß eine Funktion haben und eine Bewegung in sich selber. Ich hab da Pfeile gemacht, das ist der Tote, das ist der Mörder, diese Motive spielen eine Rolle, die werden dargestellt von diesen und jenen Personen, usw. Und wenn man anfängt zu schreiben, dann entwickelt man das Thema. Das Thema wird nie von vornherein deutlich, das wird erst langsam deutlich. Jede Szene muß eine Beziehung zum Thema haben. Selbst wenn Sie sie gar nicht erkennen als solche, wenn sie ganz weit weg ist, aber irgendwo, ganz schwach, leuchtet das Thema auf. Es darf keine nutzlosen Themen geben nur aus Spaß an der Freude, etwa Spaß an der Aufregung, daß da jemand eine Pistole zieht. Das kann man gleich vergessen, das ist keine Aufregung.

 

Wielang dauerte der Vorgang des Überlegens?

Je nachdem. Von einer halben Stunde bis zu einem Tag. Ich bin immer da gesessen (Couch), da ist die Schreibmaschine (Schreibtisch) gewesen. Und ich hab überlegt, Moment mal, das könnte was sein, dann hat sich der Körper schon von selber zu der Schreibmaschine hinbewegt.

 

Ist es auch vorgekommen, daß Sie ein Manuskript angefangen haben ohne den Schluß zu wissen?

Ja. Es gibt Leute, die bauen Szene für Szene, ehe sie sie schreiben. Also, das kann man natürlich machen. Ich halte davon gar nichts. Ein Drehbuch ist ein lebendiger Schreibvorgang. Sie selbst sind beteiligt mit allem, was Sie erfahren. Die Personen entwickeln sich, indem Sie sie beschreiben, ihnen Worte und Charakter geben. Aber Sie können nicht gleich alles bedenken. Natürlich haben Sie einen Schluß im Kopf, aber Sie wandern ja selbst durch die Geschichte. Und irgendwann sagen Sie sich plötzlich, der hat doch das viel bessere Motiv! Sie überraschen sich selber damit, und überraschen wahrscheinlich auch den Zuschauer damit. So gesehen ist alles ein ganz lebendiger Vorgang. Wenn es Ihnen am Ende noch gelingt, das Konzept oder das Thema in einen Satz einzufassen, dann haben Sie gewonnen.

Ist es auch vorgekommen, daß Sie achronologisch geschrieben haben? Zum Beispiel zuerst den Schluß?

Nein, nein, um Gottes Willen. Das geht überhaupt nicht, Sie können sich den Schluß vorstellen. Den stellen Sie zur Disposition, aber ob Sie den nehmen, das ist eine ganz andere Frage. Wenn man sich dem Schluß nähert, ist es gut, wenn man das Gefühl hat, man stürzt dem Ende entgegen.

 

Wie sieht ein Tagesablauf aus bei Ihnen?

Nach dem Frühstück setz ich mich hin. Es soll möglichst alles ruhig sein, man kann mich aber schon stören, anrufen, spielt keine Rolle. Und dann fängt man halt an. Dann hab ich auch einen Plan gehabt, wie weit ist die Geschichte, dann weiß ich ganz genau, wielang hast du gebraucht, zehn Tage, zwölf Tage, fünf Tage...

 

Wieviel Seiten hat ein Derrick-Buch?

Ich schreib in der amerikanischen Schreibweise, das sind 85 bis 90 Seiten.

 

Was ist ein gutes Tagespensum?

Wissen Sie, es gibt kein Pensum. Eine Geschichte entwickelt sich ja in Phasen. Es gibt Szenenabläufe, die kennen Sie ganz genau. Da gibt’s plötzlich einen Punkt, wo Sie die Person verlassen müssen, in eine andere Person hineinsteigen, Sie brauchen Übergänge. Ich sage Ihnen, das Schlimmste sind die Übergänge. Das sind manchmal Leerstellen, die nicht viel aussagen, aber sie gehören dazu, um den Zuschauer von einem Schauplatz zum anderen zu führen. Straßenszenen zum Beispiel. Das ist so die Luft in einem Film. Da muß man eine Richtung bestimmen. Da treffen Sie eine Entscheidung, deren Wichtigkeit Sie manchmal gar nicht einschätzen können. Da kann man eine Pause machen, rausgehen, spazieren, Golf spielen gehen. Solange Sie an einer Arbeit sind, verläßt Sie der Stoff nicht. Ich ging mit meiner Frau Golf spielen und hab ganz bestimmt an nichts gedacht. Und dann kommt plötzlich ein Einfall: Moment mal, das gibt’s doch nicht! Sie müssen zurück zur Einheit der Geschichte.

 

Wie haben Sie auf Kritik von Redakteuren oder anderen Beteiligten reagiert?

Ich hatte das Glück, daß ich mich bei "Derrick" über zweieinhalb Jahrzehnte frei bewegen konnte. Wenn der Ringelmann, der Produzent, etwas nicht verstanden hat, dann sagte ich, vergiß es, brauchst nicht zu bezahlen, ich tu’s weg, kriegst was Neues.

Wenn zuviel kritisiert wurde, haben Sie das Drehbuch weggeworfen?

Ja. Im Laufe von zwanzig Jahren waren das etwas zwanzig Stück, einmal pro Jahr. Es gab da verschiedene Gründe: zu aufwendig zum Beispiel - ein wichtiger Punkt, vor allem beim Fernsehen.

 

Welche Erfahrungen haben Sie mit Dramaturgen gemacht?

Beim Fernsehen, beim "Kommissar" oder "Derrick" hab ich nie einen gebraucht, bin auch keinem begegnet. Bei Spielfilmen war das etwas anderes. Ein Filmdrehbuch ist Verhandlungsmasse. Es wird wie eine Unterlage behandelt, mit der man machen kann, was man will. Das ist mein Eindruck gewesen. Vor allem nach dem Kriege, als ich viele Filmdrehbücher geschrieben habe. Da saß man zusammen bei dramaturgischen Sitzungen und Verhandlungen, und da sagte einer, was hältst du davon, könnte man das nicht ein bißchen lustiger machen, oder einer sagte, gib das weg oder kannst du nicht noch eine Figur einführen. Alle Leute, die keine Schriftsteller sind, aber glauben, daß sie welche sein könnten, das sind die Dramaturgen. Ich warne Sie vor Dramaturgen! Hände weg von Dramaturgen! Ein Dramaturg ist ihr Feind, nicht ihr Freund! Er behauptet, er ist ihr Freund, aber er ist es nicht. Er ist einer, der nach Gesichtspunkten handelt, die Ihnen ganz unbekannt sind. Ein Drehbuch ist eine Komposition von Thema, Anfang, Anzahl der Personen, usw. Der Dramaturg erkennt das gar nicht. Sie können’s manchmal gar nicht richtig erklären, weil Sie haben’s instinktiv in sich: Sie wissen ganz genau, das muß ich so machen, das muß ich so machen. Sie haben die Figuren alle im Kopf, kennen die Möglichkeiten, die die Figuren haben, aber Sie breiten sie nicht gleich aus. Das ist auch nicht nötig, ganz im Gegenteil, es gibt Bewegung in jeder Figur, die Sie längst ahnen. Das können Sie einem Dramaturgen gar nicht erklären. Ich habe die schlimmsten Erfahrungen immer mit Dramaturgen gemacht.

 

Welche wirklich schlechten Erfahrungen haben Sie da gemacht?

Es gab Filme, da stand ich nur als Einziger drauf. Wenn ein Dramaturg sagte, na, mach das so, hab ich das schon geändert, aber es ist immer noch meine Arbeit gewesen, da hat nicht mit einer am Tisch gesessen. Jetzt hab ich aber mit der VG Wort zu tun. Da wird der Autor gemeldet, und dann melden sie auch noch den Dramaturgen. Und ich wundere mich, doch der sagt, nein, nein, da hab ich zu 30% mitgearbeitet. Das war ein interessanter Streitfall, weil Dramaturgen werden ja von der Firma bezahlt für ihre Arbeit. Wenn der sagt, ich will das so und so machen, dann ist das immer noch meine Arbeit, nicht seine.

 

Hat sich für Sie in der Sprache sehr viel verändert?

Natürlich. Sprache verändert sich immer. Nicht nur die Sprache, auch die Themen. Ich bin jetzt seit fast sechzig Jahren Drehbuchautor. Was sich in meiner Lebenszeit verändert hat, das ist einfach unglaublich. Ich wandere natürlich raus aus der normalen Umgangssprache. "Okay" sage ich mal gerade noch, aber alles andere ist für mich unerträglich."Ich bin gut drauf" werden Sie von mir nie hören.

Aber Sie müssen als Drehbuchautor ja auch Menschen sprechen lassen, die eben diesen, von Ihnen nicht geschätzten Sprachgebrauch verwenden?

Ehrlich gesagt, ich erlebe nur solche Beispiele. In deutschen Filmen hat die Fäkalsprache überhand genommen. "Scheiße", "Schwänze", "Dir schneid ich die Eier ab", das werden Sie von mir nicht hören, das ist für mich kulturell einfach nicht zulässig. Wir sind ja mit "Derrick" wegen der gehobenen Sprache aufgefallen, wegen der Dialoge. Aber ich höre ja sowieso auf. Ich bin jetzt 83, so gesehen bin ich für niemanden eine Zukunftshoffnung mehr. Ich habe mit der Sprache, die ich habe, abgeschlossen und möchte sie eher noch verfeinern. Ich möchte nicht, daß das Gefühl für eine gute Sprache verloren geht.

 

War es für Sie immer wichtig, gut zu verdienen?

Das Leben wird bestimmt von Gelderwerb, das wegzureden wäre falsch. Es geht bei jedem um Geld, so gesehen spielt das eine Rolle. Ich hab lange Zeit die Fernsehhonorare akzeptiert wie sie waren, bis zu 100 Folgen, bis mir jemand erzählte, der in Cannes bei irgendeinem Produzententreffen war, daß ein Holländer gesagt hat: "Der beste Drehbuchautor Deutschlands ist Reinecker. Aber mich wundert, daß der Mann so billig ist."

 

Da haben Sie zum Umdenken begonnen?

Es war mir immer peinlich und unangenehm, bis ich dann merkte, ich bin bequem für die Leute.

Konnten Sie einmal einen Abgabetermin nicht einhalten?

Nein, das hat's nie gegeben. Ich bin bekannt dafür, daß ich gesagt habe, nächste Woche, 14.00 Uhr, bring ich euch das Buch, und das war dann so.

 

Was sagen Sie zu Gerüchten, daß Sie Ghostwriter hätten?

Das ist ein altes Thema. Es gibt Leute, die sagen, das gibt's nicht, der muß Leute gehabt haben, die für ihn geschrieben haben. Glauben Sie mir, die hätten sich längst gemeldet. Es gibt auch Leute, die mich prüfen wollen. Da ruft einer an und sagt, Herr Reinecker, ich bin Journalist, könnte ich Ihnen nicht helfen? Die warten ja nur drauf, daß ich sage, ja, kommen Sie doch her. Daß die Leute das nicht glauben können?... Man muß sich einfach damit vertraut machen, daß es Leute gibt, die in diesem Punkt ein Sonderfall sind. Ich schreibe mit größtem Vergnügen und mit größter Leichtigkeit.

Danke für das Gespräch.

 

Fußnoten:

1 Kochenrath, Hans-Peter: Kontinuität im Film. In : Filmtsudio Heft 50+51. Wiederabdruck in: Bredow, Wilfried von/Zurek, Rolf (Hrsg.): Film und Gesellschaft in Deutschland. Dokumente und Materialien, Hamburg 1975, S.289-292

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